Treffpunkt Deutsch 2, Sprachbuch

Lügenbaron Münchhausen auf der Spur – Lügengeschichten untersuchen Schreiben Umgang mit Texten Der Ritt auf der Kanonenkugel und andere Abenteuer Im gleichen Feldzug belagerten wir eine Stadt – ich habe vor lauter Belagerungen vergessen, welche Stadt es war –, und Marschall Münnich hätte gerne gewusst, wie es in der Festung stün- de. Aber es war unmöglich, durch all die Vor- posten, Gräben und spanischen Reiter hinein- zugelangen. Vor lauter Mut und Diensteifer, und eigent- lich etwas voreilig, stellte ich mich neben eine unserer größten Kanonen, die in die Stadt hin- einschossen, und als sie wieder abgefeuert wur- de, sprang ich im Hui auf die aus dem Rohr herauszischende Kugel! Ich wollte mitsamt der Kugel in die Festung hineinfliegen! Wäh- rend des sausenden Flugs wuchsen allerdings meine Bedenken. Hinein kommst du leicht, dachte ich, aber wie kommst du wieder heraus? Man 5 10 15 20 wird dich in deiner Uniform als Feind erkennen und an den nächsten Galgen hängen! Diese Überlegungen machten mir sehr zu schaffen. Und als eine türkische Kanonenkugel, die auf unser Feldlager gemünzt war, an mir vorüberflog, schwang ich mich auf sie hinüber und kam, wenn auch unverrichteter Sache, so doch gesund und munter wieder bei meinen Husaren an. Im Springen über Zäune, Mauern und Grä- ben war mein Pferd nicht zu schlagen. Hinder- nisse gab es für uns nicht. Wir ritten immer den geradesten Weg. Als ich einmal einen Hasen verfolgte, der quer über die Heerstraße lief, fuhr zwischen ihm und mir dummerweise eine Kut- sche mit zwei schönen Damen vorüber. Da die Kutschenfenster heruntergelassen waren und ich den Hasen nicht aufgeben wollte, sprang ich 25 30 35 40 samt dem Gaul kurz entschlossen durch die Kutsche hindurch! Das ging so schnell, dass ich mit knapper Mühe und Not die Zeit fand, den Hut zu ziehen und die Damen um Entschuldi- gung zu bitten. Ein anderes Mal wollte ich mit meinem Litauer über einen Sumpf springen. Bevor ich sprang, fand ich ihn lange nicht so breit wie während des Sprungs. 45 50 Nun, wir wendeten mitten in der Luft um und landeten mit heiler Haut auf dem Trocknen. Aber auch beim zweiten Anlauf sprangen wir zu kurz und sanken, nicht weit vom anderen Ufer, bis an den Hals in den Morast! Und wir wären rettungslos umgekom- men, wenn ich mich nicht, ohne mich lange zu besinnen, mit der eignen Hand am eignen Haarzopf aus dem Sumpf herausgezogen hätte! Und nicht nur mich, sondern auch mein Pferd! Es ist manchmal ganz nützlich, kräftige Mus- keln zu besitzen. Trotz meiner Tapferkeit und Klugheit und trotz meines Litauers Schnelligkeit und Aus- dauer geriet ich, nach einem Kampf mit einer vielfachen Übermacht, in Kriegsgefangenschaft. Und was noch schlimmer ist: Ich wurde als Sklave verkauft! […] Kurz darauf schlossen die Russen und die Türken Frieden, und ich wurde als einer der ersten Gefangenen ausgeliefert und nach Pe- tersburg zurückgeschickt. Dort nahm ich mei- nen Abschied und kehrte nach Deutschland zurück. […] Da mein Litauer von den Türken beschlagnahmt worden war, musste ich mit der Schlittenpost reisen. 55 60 65 70 75 152 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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