Treffpunkt Deutsch 2, Sprachbuch

Wie Eulenspiegel einem Esel das Lesen beibrachte Den Schalk im Nacken – Eulenspiegel- geschichten kennen lernen und untersuchen Umgang mit Texten Sprechen und Zuhören Eine Zeit lang beschäftigte sich Eulenspiegel da- mit, dass er von Universität zu Universität zog, sich überall als Gelehrter ausgab und die Pro- fessoren und Studenten neckte. Er behauptete, alles zu wissen und zu können. Und er beant- wortete tatsächlich sämtliche Fragen, die sie ihm vorlegten. Bei dieser Gelegenheit kam er schließlich nach Erfurt. Die Erfurter Studenten und ihr Rektor 1 hörten von seiner Ankunft und zerbra- chen sich den Kopf, was für eine Aufgabe sie ihm stellen könnten. […] Endlich fiel ihnen et- was Passendes ein. Sie kauften einen Esel, bug­ sierten das störrische Tier in den Gasthof „Zum Turm“, wo Eulenspiegel wohnte, und fragten ihn, ob er sich zutraue, dem Esel das Lesen bei- zubringen. „Selbstverständlich“, antwortete Till. „Doch da so ein Esel ein dummes Tier ist, wird der Unterricht ziemlich lange dauern.“ „Wie lange denn?“, fragte der Rektor der Universität. „Schätzungsweise zwanzig Jahre“, meinte Till. […] Der Rektor war mit den zwan- zig Jahren einverstanden. Eulenspiegel verlang- te fünfhundert alte Groschen für seinen Unter- richt. Man gab ihm einen Vorschuss und ließ ihn mit seinem vierbeinigen Schüler allein. Till brachte das Tier in den Stall. In die Futterkrippe legte er ein großes altes Buch, und zwischen die ersten Seiten des Buches legte er Hafer. Das merkte sich der Esel. Und um den Hafer zu fres- sen, blätterte er mit dem Maul die Blätter des Buches um. War kein Hafer mehr zu finden, rief der Esel laut: „I-a, i-a!“ Das fand Eulenspiegel großartig, und er übte es mit dem Esel wieder und wieder. Nach einer Woche ging Till zu dem Rektor und sagte: „Wollen Sie bei Gelegenheit einmal mich und meinen Schüler besuchen?“ „Gern“, meinte der Rektor. „Hat er denn schon einiges gelernt?“ „Ein paar Buchstaben kann er bereits“, erklärte Eulenspiegel stolz. „Und das ist ja für einen Esel und für eine Woche Unterricht schon allerhand.“ Schon am Nachmittag kam der Rektor mit den Professoren und Studenten in den Gasthof, und Till führte sie in den Stall. Dann legte er ein Buch in die Krippe. Der Esel, der seit einem Tag kein Futter gekriegt hatte, blätterte hungrig die Seiten des Buches um. Und da Eulenspiegel diesmal überhaupt keinen Hafer ins Buch gelegt hatte, schrie das Tier unaufhörlich und so laut es konnte: „I-a, i-a, i-a!“ „I und A kann er schon, wie Sie hören“, sagte Eulenspiegel. „Mor- gen beginne ich damit, ihmO und U beizubrin- gen.“ Da gingen die Herren wütend fort. Der Rek- tor ärgerte sich so sehr, dass ihn bald darauf der Schlag traf. Und Till jagte den Esel aus dem Stall. „Scher dich zu den andren Erfurter Eseln!“, rief er ihm nach. Dann schnürte er sein Bündel und verließ die Stadt noch am selben Tag. 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62 1  Leiter einer Universität oder Hochschule 2  Schoppen: altes Maß für Flüssigkeiten 148 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

RkJQdWJsaXNoZXIy ODE3MDE=