Treffpunkt Deutsch 2, Sprachbuch

Kurz vor Ende der Stunde klatschte sie in die Hände: „Kinderchen, jetzt singen wir noch ein- mal ‚Eines Morgens in aller Frühe‘!“ […] „Dragole, komm doch kurz her, mein Junge, ja?“ Die Mädchen kicherten. „Singst du uns die Melodie einmal vor, damit wir uns alle darauf einstimmen können, bevor wir zusam- men singen? Ja? Also, eins, zwei …“ Und Drakula sang wie ein Engel. Murat blieb der Mund offen stehen. Wie konnte aus diesem Bengel, der die Fäuste auch benutzte, wenn er sie ballte, so eine Stimme kommen? […] Als Drakula auf seinen Platz neben Murat zurück- kam, war sein Gesicht knallrot. „Wie schön du singst!“, flüsterte Murat ihm zu. Doch Drakula knurrte: „Halt bloß die Klappe!“ Bevor die beiden Jungen sich an der Bushal- testelle trennten, stieß Murat Drakula leicht an die Schulter: „Bis morgen, Drakula!“ Statt einer Antwort aber drehte Drakula sich um und rannte weg. Murat stand verdattert da. „Hey, was ist los?“, rief er hinter Drakula her und schon war er ihm auf den Fersen. Drakula war flink, aber Murat war fest ent- schlossen, den neuen Freund nicht einfach so gehen zu lassen. Als er ihn eingeholt hatte, schlug Drakula mit den Fäusten auf ihn ein, doch Murat packte ihn bei den Handgelenken und schüttelte ihn – so machte Mutter das im- mer, wenn er zu übermütig wurde, wie sie es nannte. „Was ist los, Dicker? Ich dachte wir sind Freunde?“, fragte Murat außer Atem und merk- te plötzlich, dass Drakula Tränen übers Gesicht liefen. „Du bist ja auch nicht besser als die ande- ren!“, schluchzte Drakula. Murat spürte, wie sein Herz zu rasen be- gann. Er hatte etwas falsch gemacht, aber was? Drakula versuchte seine Hände aus Murats Griff zu befreien, doch Murat ließ nicht locker. „Sag mir, was los ist, sonst stehen wir morgen Früh noch hier!“, schrie er. […] Drakula blitzte Murat wütend an und fauch- te: „Du hast auch dieses Wort gesagt!“ „Was? Welches Wort denn?“ „Na, Drakula!“ „Aber heißt du denn nicht so?“ […] Murat fiel ein, dass die Musiklehrerin etwas anderes gesagt hatte, und richtig liebevoll hatte das geklungen: „Dragole …“, kam es Mu- rat zögernd über die Lippen. „Aber warum sa- gen denn alle Drakula zu dir und wieso wehrst du dich nicht dagegen, wenn’ s dir nicht passt?“ „Weißt du, wir kommen doch aus Rumänien. Als ich im November neu in die Klasse gekom- men bin, stellte der Lehrer mich vor. ‚Das ist Drago aus Rumänien‘ , hat er gesagt und die Klasse gefragt: ‚Wisst ihr denn, wo Rumänien ist?‘ Der fette Igor hat gerufen: ‚Da kommt doch Drakula her!‘ Alle haben gelacht und einer hat noch ‚Zigeuner‘ gerufen. Igor hab ich gleich in der ersten großen Pause verdroschen, aber ge- nützt hat es nichts.“ Murat legte ihm den Arm um die Schulter. „Drago, du bist mein Freund. Ich weiß nicht viel über Graf Drakula, aber vielleicht war der gar kein so schlechter Kerl!“ Drakula lachte. „Nee, nee, der war schon wirklich schlimm!“ „Aber nicht schlimmer als Iwan der Schreck- liche, oder?“ „Wieso?“ „Na, wenn Igor dich wieder Drakula ruft, nenn du ihn doch einfach Iwan den Schreckli- chen oder Rasputin oder so!“ Drakula machte große Augen. „Woher kennst du die denn?“ Murat dachte an Merlin und Artus, das Buch, das zu Hause unter dem Kopfkissen auf ihn wartete. Historische Romane waren seine große Leidenschaft. Er schmunzelte. „Ach, das erzähl ich dir ein anderes Mal! Komm, Drago, wir gehen jetzt erstmal Eis essen. Magst du lie- ber Erdbeer oder Stracciatella?“ Er war froh, die zwei Euro, die Mutter ihm am Morgen gegeben hatte, noch in der Tasche zu haben. Drakula entschied sich für Erdbeereis: „Weil das fast so rot ist wie Blut, Blutsbruder!“ 68 70 72 74 76 78 80 82 84 86 88 90 92 94 96 98 100 102 104 106 108 110 112 114 116 118 120 122 124 126 128 130 132 134 136 138 140 142 144 146 148 150 152 154 Erzähle die Geschichte aus der Sicht Dragos. Schreibe in der Ich-Form. N 1  141 Alles selbst erlebt! Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

RkJQdWJsaXNoZXIy ODE3MDE=