Treffpunkt Deutsch 2, Sprachbuch

In jemandes Haut schlüpfen – Schreiben nach Vorgaben Umgang mit Texten Schreiben 1 Die Perspektive wechseln Sabine Adatepe Murat und Drakula „Am Schulkiosk kostet der Kakao einen Euro. Na, ich geb dir zwei, ist ja dein erster Tag heu- te.“ Mutter gab Murat einen Kuss auf die Stirn und einen Klaps auf die Schulter. Manchmal behandelte sie ihn wie einen Fünf- jährigen, fand Murat. Dabei musste er heute Morgen sogar allein in die neue Schule gehen, weil sie ausgerechnet an seinem ersten Tag arbei- ten musste. „Klar schaff ich das“, hatte er gesagt, „ich weiß ja, wo das Lehrerzimmer ist, und über- haupt, ich bin doch kein Baby mehr!“ Als er jetzt vor den 21 unbekannten Gesich- tern stand, spürte er sein Herz richtig häm- mern. […] „Das ist Murat. Du kommst aus der Türkei, nicht wahr?“, fragte jetzt Herr Schmidt, der Deutschlehrer, der Murat in die Klasse gebracht hatte. „Ich komme aus Pinneberg“, protestierte Murat. Und Pinneberg ist eine Stadt bei Ham- burg. Die Mädchen kicherten und einige Jungen lachten. Irgendwo hörte Murat aber auch eine andere Stimme, die rief: „Hoş geldin, ’Lan 1 , Dicker!“ Ein kleiner, aber kräftig aussehender Junge mit einem wirren rabenschwarzen Haarschopf in der zweiten Reihe lachte auch nicht, er fun- kelte den neuen Mitschüler aus dunklen Augen nur neugierig an. Dieser Junge war Murat vor- hin schon auf dem Korridor aufgefallen, da hat- te er sich geprügelt und war erst kurz vor dem Lehrer in den Klassenraum geflutscht. Und nun schob der Lehrer Murat ausgerechnet zu diesem Jungen hinüber! „Gut, also Murat aus Pinneberg, setz dich da zu Drakula, damit du nicht von Anfang an nur Türkisch quatscht!“ Murat glaubte, sich verhört zu haben. Hatte der Lehrer „Drakula“ gesagt? So konnte der Junge doch nicht heißen! Murat setzte sich zu dem Jungen, der bereitwillig seine Sachen bei- seite schob. Die ganze Klasse feixte: „Frisches Blut für Drakula! Ein neues Opfer für Drakula!“ […] In der großen Pause nahm Drakula ihn mit auf den Hof. „Komm, ich kauf Cola für uns beide!“, schlug er vor. Murat nickte und steckte noch seine Pausendose ein: Tomate und Gurke, ein Pfirsich, Müsliriegel und Käsebrot. Drakula riss die Augen weit auf und freute sich, als Mu- rat ihm den halben Pfirsich und das ganze Kä- sebrot überließ. Murat aß sowieso viel lieber Wurstbrot. Sport war schrecklich. Murat hasste Turnen. […] Die Jungsriege grätschte über den Kasten. Drakula hüpfte behende wie ein Eichhörnchen hinüber und stellte sich hinter dem Kasten auf, um Murat aufzufangen. Zusammen rollten sie auf die dicke Matte. Drakula drückte ihm fest den Arm und Murat fühlte sich nicht mehr ganz so verloren. […] In der letzten Stunde war Musik angesagt. „Erst die Arbeit, dann das Vergnügen“, trällerte Frau Garcia-Mendez, die Lehrerin, und teilte Arbeitsblätter aus. 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62 64 66 1  „Willkommen hearst“ – umgangssprachlich und eher unfreundlich gemeint. 140 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des V rlags öbv

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