Treffpunkt Deutsch 1, Schulbuch

Mein Vöglein mit dem Ringlein – Ein Märchen genau lesen und verstehen Umgang mit Texten Schreiben Gebrüder Grimm Jorinde und Joringel Es war einmal ein altes Schloss mitten in einem großen Wald, darin wohnte eine alte böse Zauberin. Am Tage verwandelte sie sich in eine Katze oder in eine Nachteule, am Abend aber sah sie wieder wie ein Mensch aus. Wenn jemand sich auf hundert Schritte dem Schloss näherte, dann verzauberte sie ihn und er musste stehen bleiben und konnte sich nicht bewegen, bis sie ihn erlöste. Wenn aber ein junges Mädchen in diesen Kreis kam, so verwandelte sie es in einen Vogel und sperrte es in einen Korb ein und trug den Korb in eine Kammer des Schlosses. Sie hatte schon sieben- tausend solcher Körbe im Schloss. Nun war einmal ein Mädchen namens Jorinde mit ihrem Bräutigam namens Joringel, die gingen in dem Wald spazieren. „Hüte dich“, sagte Joringel, „dass du nicht so nahe ans Schloss kommst.“ Nach einer Weile aber sahen sie sich um und begannen zu klagen: Sie hatten sich verirrt und wussten nicht, wohin sie nach Hause gehen sollten. Noch halb stand die Sonne über dem Berg, und halb war sie schon untergegangen. Joringel sah durchs Gebüsch und sah die alte Mauer des Schlosses nah bei sich; er erschrak und hatte große Angst. Da begann Jorinde zu singen: „Mein Vöglein mit dem Ringlein rot singt Leide, Leide, Leide: Es singt dem Täubelein seinen Tod, singt Leide, Lei - zicküth, zicküth, zicküth.“ Joringel sah zu Jorinde. Sie war in eine Nachtigall verwandelt. Eine Nachteule mit glühenden Augen flog dreimal um sie herum und schrie dreimal „schu-hu-hu-hu“. Joringel konnte sich nicht rühren: Er stand da wie ein Stein, konnte nicht weinen, nicht reden, weder Hand noch Fuß regen. Nun war die Sonne untergegangen; die Eule flog in einen Strauch, und gleich darauf kam die alte Zauberin hervor. Sie murmelte, fing die Nachtigall und trug sie auf der Hand fort. Joringel konnte nichts sagen und sich nicht rühren und blieb allein zurück. Endlich kam die Zauberin wieder und sagte mit dumpfer Stimme: „Grüß dich, Zachiel, wenn‘s Möndel ins Körbel scheint, bind los Zachiel, zu guter Stund.“ Da wurde Joringel von seinem Zauber erlöst. Er fiel vor der Frau auf die Knie und bat, sie möchte ihm seine Jorinde wiederge- ben, aber sie sagte, er sollte sie nie wiederha- ben und ging fort. Er rief, er weinte, er jam- merte, aber alles umsonst. Joringel ging fort und kam in ein fremdes Dorf; dort hütete er die Schafe lange Zeit. Endlich träumte er einmal des Nachts, dass er eine blutrote Blume fand, in deren Mitte eine schöne große Perle war. Die Blume brach er ab, ging damit zum Schloss und alles, was er mit der Blume berührte, wurde von dem bösen Zauber erlöst und er konnte seine Jorinde wiederfinden. Am Morgen, als er erwachte, fing er an, überall nach einer sol- chen Blume zu suchen. Er suchte bis an den neunten Tag, da fand er die blutrote Blume früh am Morgen. In der Mitte war ein großer Tautropfen, so groß wie die schönste Perle. Diese Blume trug er Tag und Nacht bis zum Schloss. Als er sich dem Schloss näherte, da wurde er nicht mehr versteinert, sondern er konnte weitergehen, bis ans Tor. Joringel freute sich, er berührte die Pforte mit der Blume, und sie sprang auf. Er ging hinein, und horchte, wo die vielen Vögel waren. Da fand er den Saal mit all den Vögeln. Dort war die Zauberin und fütterte die Vögel in den siebentausend Kör- ben. Als sie Joringel sah, wurde sie bitterböse und wollte sich auf ihn stürzen, aber sie konnte auf zwei Schritte nicht an ihn heran- kommen. Er kümmerte sich nicht um sie und betrachtete die Körbe mit den Vögeln. Da waren aber viele hundert Nachtigallen, wie sollte er nur seine Jorinde wiederfinden? Als er sich so umsah, merkte er, dass die Alte heim- lich ein Körbchen mit einem Vogel wegnahm 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62 64 66 68 70 72 74 76 78 80 82 84 86 118 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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