Sexl Physik 8, Schulbuch

4.4 Offene Fragen Die Frage nach der Masse Wird sich das Universum bis in alle Ewigkeit ausdehnen oder reicht die gravitative Anziehung der Massen des Universums aus, um die Expansion zu stoppen und um- zukehren? Diese Frage ist innerhalb der Newton’schen Gravitationstheorie einfach zu beantworten, wenn man die mittlere Dichte ρ des Universums kennt. Es gibt nämlich eine kritische Dichte ρ c , bei der die Fluchtbewegung der Galaxien nach unendlich langer Zeit zum Stillstand kommt. Wir bestimmen ρ c , indem wir die der- zeitige Geschwindigkeit einer beliebig gewählten Galaxie v = H · r der Fluchtge- schwindigkeit gleichsetzen, die einer Kugel mit der Dichte ρ c und dem Radius r entspricht. Mit v = ​ 9 ____ ​  2 G · M __ r ​ ​ , M  = ​  4 π r 3 ρ c __  3 ​, und v = H · r ( G Gravitationskonstante) ergibt sich ρ c = ​  3 H 2 _  8 π G ​ . In dieser Newton’schen Näherung müsste das Universum für ρ < ρ c immer weiter expandieren; für ρ > ρ c hört die Expansion irgendwann einmal auf und das Univer- sum kollabiert. Die kritische Dichte hat allerdings nur dann die obige Form ρ c , wenn die Gravitati- onswechselwirkung allein durch die Masse bestimmt ist. Im Allgemeinen trägt je- doch auch der Druck zum Gravitationsfeld bei. Dieser Beitrag ist zwar für „norma- le“ Materie vernachlässigbar, nicht jedoch für die bereits erwähnte Dunkle Energie . Diese hat zwar positive Massendichte ρ , aber negativen Druck p = ρ · c 2 . Der negative Druck bewirkt die Beschleunigung der Expansion des Universums. Verschiedene, voneinander unabhängige Beobachtungsresultate, insbesondere über die Expansionsgeschichte des Universums und die kosmische Hintergrund- strahlung, führen übereinstimmend zu dem Schluss, dass die gesamte Massen- dichte des Universums sehr nahe beim kritischen Wert ρ c liegt und die Dunkle Energie mit 73% Massenanteil sogar der Hauptbestandteil des Universums ist. We- gen der Dominanz der Dunklen Energie ist ρ c nicht mehr kritisch im ursprüngli- chen Sinn, d. h. die Expansion des Universums ist nicht „kritisch“ gebremst, son- dern beschleunigt sich immer mehr. Woraus besteht die verbleibende Masse des Universums, also jene 27% die nach Abzug der Dunklen Energie übrig bleiben? Die Nukleosynthese nach dem Urknall liefert nur einen Massenanteil von 4% baryonischer (d. h. aus Nukleonen und Elek- tronen aufgebauter) Materie, und davon ist ein Zehntel „leuchtend“, d. h. der unmit- telbaren astronomischen Beobachtung zugänglich. Der Großteil der baryonischen Materie und auch die verbleibenden 23% aus der Massenbilanz sind dunkel und können nur über ihre gravitative Wirkung, z. B. auf die Rotationsgeschwindigkeit von Spiralgalaxien, nachgewiesen werden. Diese sogenannte Dunkle Materie muss ein vergleichsweise kalter Staub aus „exotischen“, nur schwach wechselwirkenden Teilchen sein, der Galaxien in sogenannten Halos kugelförmig umgibt. Woraus die Dunkle Materie besteht und was die Dunkle Energie ist, woraus also 96% der Mas- se unseres Universums „bestehen“, wissen wir nicht. Sie zu entschlüsseln ist eine der größten Herausforderungen der heutigen Elementarteilchenphysik (  96.4 , 97.3 ). Warum ρ ≈ ρ c ist, hat noch keine endgültige Antwort gefunden. Das Inflationsmo- dell könnte möglicherweise eine Erklärung liefern. Die Frage nach der Antimaterie Bei den extrem hohen Temperaturen des Urknalls muss ein Gleichgewicht zwi- schen Materie und Antimaterie geherrscht haben. Zeugen der Vernichtung zwi- schen Materie und Antimaterie sind jene Photonen, die wir heute als Hintergrund- strahlung registrieren. Da gegenwärtig auf ein Nukleon zehn Milliarden Photonen kommen, muss es vor der Entstehung der Photonen einen winzigen Überschuss an Materie gegeben haben. Es ist eine offene Frage, wie es zu dieser Asymmetrie ge- kommen ist. 96.1 Hätten Neutrinos genügend Masse, könnten sie kugelförmige Wolken (sog. Halos) um Galaxien bilden. 96.3 Im Jahr 2011 erhielten S aul P erlmutter (USA), B rian P. S chmidt (USA und Australien) und A dam G. R iess (USA) den Nobelpreis für Physik für die Entdeckung der beschleunigten Ausdehnung des Universums durch Beobach- tung entfernter Supernovae. Als Ursache der Ausdehnung sehen die Physiker derzeit die Dunkle Energie im All an, die etwa zwei Drittel der Masse des Universums ausmachen soll. 96.2 Die Messdaten zeigen die feinen Tempe- raturvariationen in der kosmischen Hinter- grundstrahlung. Die Sonde des Satelliten COBE registrierte Anfang der 1990er Jahre winzige Unregelmäßigkeiten in der Hintergrundstrah- lung. Etwa zehn Jahre später wurde mit we- sentlich höherer Auflösung das zweite Bild von der Sonde WMAP aufgenommen. ( 97.4 ) Dunkle Energie 73% Dunkle Materie 23% Atome 4% 96.4 Nur 4% der Materie des Universums besteht aus den uns bekannten Atomen. Woraus der Großteil des Universums besteht wissen wir nicht.  96 AKTUELLE FORSCHUNG Nur zu Prüfzweck n – Eigentum des Verlags öbv

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