Sexl Physik 8, Schulbuch

2.8 Standardmodell und das Higgs-Teilchen Die schwache Wechselwirkung mit W + , W – und Z 0 und die elektromagnetische Wechselwirkung mit dem Photon γ als Überträger der Kräfte haben sich als ver- schiedene Aspekte einer einzigen elektro-schwachen Wechselwirkung erwiesen. Bei den Bedingungen, wie sie kurz nach dem Urknall (s. S. 92) herrschten, waren die beiden Wechselwirkungen nicht zu unterscheiden. Erst mit Sinken der Tempe- ratur wurden sie verschieden stark und dadurch unterscheidbar. Bei der Formulierung der Gesetze der elektro-schwachen Wechselwirkung stellte sich folgende Frage: Warum haben die W - und Z -Teilchen im Gegensatz zu Photo- nen Masse? Die heute akzeptierte Antwort klingt nach einem reinen Fantasiepro- dukt, man könnte sie fast als Zaubertrick ansehen: Es wird die Existenz eines zu- sätzlichen Feldes, des Higgs-Feldes, postuliert. Die Antwort zeigt, dass wir noch weit entfernt sind, den Aufbau der Welt zu verstehen – das umso mehr, als nach den Erkenntnissen der Kosmologie die uns bekannte Materie nur einen kleinen Teil des Universums darstellt. Wie Photonen zu elektromagnetischen Feldern gehören, sollte es zum Higgs-Feld auch Higgs-Teilchen geben: Das Higgs-Feld existiert im gesamten Raum und er- zeugt fortwährend virtuelle Higgsteilchen . Die ursprünglich masselosen W -Teil- chen und Quarks bzw. Leptonen bekommen Masse durch ihre Wechselwirkung mit dem Higgsfeld . Eine häufig gebrauchte Analogie zeigt   73.1 . Reelle Higgs-Teilchen sollen nach dieser Vorstellung eine sehr große Masse besit- zen und lassen sich daher nur in Teilchenkollisionen mit sehr hohen Energien er- zeugen, wie sie am CERN-Beschleuniger LHC erreicht werden. Im Juli 2012 wurde die Entdeckung eines Teilchens mit einer Masse von etwa 140 Protonenmassen be- kannt gegeben, das mit großer Wahrscheinlichkeit das gesuchte Higgs-Boson ist (  73.2 ). Bereits im Herbst 2013 wurde die Entdeckung mit dem Nobelpreis gewür- digt. Die Theorie der elektro-schwachen Wechselwirkung und der Quark-Gluon-Wech- selwirkung wird insgesamt als Standardmodell der Teilchenphysik bezeichnet. Es wird erfolgreich zur Deutung eines Großteils der Phänomene verwendet, doch blei- ben viele Fragen offen. Wenig erfolgreich verlief bisher der Versuch, die elektro-schwache Wechselwir- kung mit der starken Farbkraft zu vereinen. Diese GUT , Grand Unified Theory , sagt die Instabilität des Protons voraus. Bisher konnte allerdings kein einziger Protonzerfall beobachtet werden. Im nächsten Schritt sollte die GUT mit der Gra- vitation zu einer TOE , Theory of Everything , vereinigt werden. Da man aber im- mer noch keine Quantentheorie der Gravitation kennt, wird dieses Ziel noch lange nicht erreicht werden. Kraft Betroffene Teilchen Reich- weite Relative Stärke Austausch- teilchen Rolle im Universum Starke Kraft Quarks 10 −15 m 1 Gluonen (masselos) bindet Quarks zu Protonen, Neutronen und weiteren Baryonen und Mesonen, bindet Atomkerne Elektro­ magneti- sche Kraft geladene Teilchen ∞ 10 −2 Photon (masselos) bestimmt die Struktur von Atomen, Molekülen, Flüssigkei- ten und Festkörpern Schwache Kraft Quarks und Leptonen 10 −18 m 10 −5 W + , W – , Z 0 (große Masse) ermöglicht langlebige instabile Atomkerne und die Kernfusion in der Sonne Schwer- kraft Alle ∞ 10 −40 Graviton (?) (masselos) bindet die Materie zu Planeten, Sternen und Galaxien Offene Probleme der Teilchenphysik −− Warum gibt es drei Teilchengenerationen? −− Wie kommen die verschiedenen Massenwerte der Leptonen, Quarks und W- und Z-Teilchen zustande? Gibt es mehrere Higgsfelder? −− Warum besteht das Universum nur aus Materie und nicht wenigstens teilweise aus Antimaterie? −− Wie kann man eine Quantentheorie der Gravitation formulieren? 73.1 Analogie zwischen Higgsfeld und einer Party: Oben: Die weniger wichtigen Partygäste stellen gleichmäßig verteilt das Higgs-Feld dar. Unten: Eine berühmte Persönlichkeit betritt den Raum und wird umringt, ihre Beweglich- keit nimmt ab, d. h. ihre Masse nimmt zu. 73.2 In den großen Detektoren am LHC (CERN) entstehen bei der Kollision zweier Pro- tonen zahlreiche Teilchen. Die Bahnen gelade- ner Teilchen werden registriert, deren Ener- gien durch Balken dargestellt. In diesem Bild stellen die langen Striche vom Zentrum des Detektors nach außen ein e + e – - bzw. ein μ + μ – - Paar dar. Vermutlich sind dies die Zerfallspro- dukte eines Higgs-Teilchens. Sie können im Prozess H ¥ Z 0  + Z 0 , Z 0 ¥ e +  + e − , bzw. μ +  +μ – entstanden sein. 73.3 Die vier fundamentalen Kräfte der Natur 73 | Teilchenphysik Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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