Sexl Physik 8, Schulbuch

Die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl Der erste auslegungsüberschreitende Unfall in der Geschichte der Kernkraft er- eignete sich in der Nacht vom 25. auf den 26. April 1986 im Reaktorblock 4 des Kernkraftwerkes Tschernobyl 120 km nördlich von Kiew (Ukraine). Es passierte, als ein Reaktorblock wegen einer jährlich durchzuführenden Revision abge- schaltet werden sollte (  59.1 ). Das Kernkraftwerk bestand aus vier Reaktorblöcken des Typs RBMK-1000. Da- bei handelte es sich um graphitmoderierte Siedewasser-Reaktoren von 1000MW Leistung ohne Sicherheitshülle. Die Brennelemente befinden sich in wasserge- kühlten Druckröhren, die vertikal in einen Graphitblock eingebaut sind, der als Moderator dient. Dieser Reaktortyp kann in einen instabilen Zustand mit un- kontrolliertem Leistungsanstieg geraten. Als entscheidende Unfallursache gilt, dass der Reaktor infolge eines Bedien- ungsfehlers auf 1% seiner Leistung heruntergefahren wurde und sämtliche Si- cherheitssysteme abgeschaltet wurden. Beim Versuch, die Leistung wieder an- zuheben, reagierte der Reaktor mit einem schlagartigen Leistungsanstieg. Da fast alle Steuerstäbe aus dem Reaktorkern entfernt worden waren, konnte der Leistungsanstieg nicht mehr gestoppt werden und der Reaktor explodierte. An der heißen Oberfläche der Brennelemente bildete sich aus Wasserdampf Knall- gas, das explodierte. Das Reaktorgebäude wurde auseinandergerissen, das Dach weggerissen. Der Graphitblock fing Feuer. Ein Teil des radioaktiven Inventars – insbesondere alle gasförmigen und die nicht gasförmigen Spaltprodukte Cs-137 und I-131 – gelangten durch den starken Aufwind in die Atmosphäre. Das Feuer wurde mit Hilfe von Hubschraubern durch Abwurf von Blei und Sand gelöscht und der Reaktorkern zugedeckt. Da durch Reaktion mit dem Grundwasser wei- tere Knallgasexplosionen und die radioaktive Verseuchung des Grundwassers zu befürchten waren, musste der Reaktor auch von unten her zubetoniert wer- den. An den Aufräumungsarbeiten waren mehr als 600000 Menschen beteiligt. In den ersten Tagen nach dem Unglück wurden 135000 Menschen evakuiert. Wie viele Menschen an den Folgen des Unfalls starben, wird sehr unterschied- lich beurteilt (4000 Tote lt. IAEA, 93000 Tote lt. Greenpeace). Die IAEA berichtet über 4000 zusätzliche Fälle von Schilddrüsenkrebs bei Kindern der Ukraine. Berichten von regionalen Ärzten zufolge waren die Auswirkungen wesentlich gravierender, als sie von der IAEA angegeben werden. Ein Problem bei der Dar- stellung der gesundheitlichen Folgewirkungen ist u. a., dass die betroffenen Menschen in alle Teile der ehemaligen Sowjetunion ausgesiedelt wurden und keine entsprechenden Daten verfügbar sind. Über die Anzahl jener Personen, die an den Rettungsmaßnahmen beteiligt waren und an Krebs erkrankten oder starben, gibt es nur Vermutungen. Die durch den Graphitbrand hervorgerufenen hohen Temperaturen bewirkten, dass die radioaktiven Spaltprodukte in höhere Atmosphärenschichten gelang- ten. Wind- und Niederschlagsverhältnisse bestimmten ihre weitere Verfrach- tung. Österreich war unter den Ländern Mitteleuropas besonders stark betrof- fen. Um die von der WHO empfohlenen Richtwerte einzuhalten und weil ein Großteil der Strahlenbelastung durch Einnehmen von kontaminierter Nahrung verursacht wird, wurden große Mengen von frischem Gemüse und von Milch vernichtet. Eine möglicherweise durch den Fallout verursachte Erhöhung der natürlichen und zivilisationsbedingten Krebsrate (derzeit 20–3 0% ) ist statis- tisch nicht erfassbar. Die Kraftwerksblöcke 1, 2 und 3 waren bis Dezember 2000 in Betrieb. Problema- tisch ist nach wie vor der Kraftwerksblock 4. Darin befinden sich vermutlich noch 9 5% des ursprünglichen Brennstoffs. Eine Schutzhülle aus Beton („Sarko- phag“) verhinderte zunächst das Austreten radioaktiver Substanzen in die Um- gebung. Wegen der Instabilität und Brüchigkeit dieses provisorischen Baus musste eine neue Schutzhülle gebaut werden. Dieser Bau war wegen seiner Größe (Höhe 110m , Länge 260m , Breite 160m ) technisch sehr schwierig. Zudem musste beim Bau die hohe Strahlenbelastung der Arbeiter berücksichtigt wer- den. Die Kosten haben bereits 2Mrd. Euro erreicht, wobei die Fertigstellung bis Jahresende 2018 nicht erfolgt ist. 59.1 Block IV des Kernkraftwerks Tschernobyl nach der Katastrophe. 59.2 Pripjat heute – eine Geisterstadt, wo vor dem Reaktorunglück im April 1986 noch 45 000 Menschen lebten. 0 100 200 300 400 500 600 700 800 Energie in keV 0 5 10 15 20 Anzahl 10 3 · 137 Cs (Röntgen) 132 Te 131 I 131 I 103 Ru 137 Cs 132 I 59.3 Gamma-Spektrum von Regenwasser nach dem Reaktorunglück in Tschernobyl im Mai 1986 in Köln gemessen. Aufgrund der Energie der einzelnen Linien können die Radioisotope bestimmt werden. 0 0,5 1,0 1,5 2,0 2,5 3,0 3,5 nCi/l 0 100 200 300 400 500 600 700 800 900 Tage nach dem 26. 4. 1986 59.4 In Österreich wurden nach dem radio­ aktiven Fallout 1986 große Mengen an Milch vernichtet, in der sich insbesondere I-131 und Cs-137 angereichert hatte. Die nach etwa 300 Tagen wieder erhöhte Aktivität der Milch war durch die Kontamination des Grünfutters bzw. des Heus verursacht. 59 | Kernphysik Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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