Sexl Physik 8, Schulbuch

Wie weit können Myonen fliegen? Die Verlängerung der Halbwertszeit von bewegten Myonen wurde bereits vor dem CERN-Experiment (siehe Kapitel 1.8, S. 17) auf andere Weise festgestellt. Myonen entstehen nämlich auch in der Erdatmosphäre in einer Höhe von etwa H = 10km durch den Zusammenprall energiereicher Teilchen aus dem Weltall (der kosmischen Strahlung) mit Atomkernen der Erdatmosphäre. Die dabei ent- stehenden Myonen bewegen sich fast mit Lichtgeschwindigkeit zur Erdoberflä- che. Dazu benötigen sie mindestens die Zeit t = ​  H _  v ​ > ​  H _  c ​ = ​  10 4  m __  3 · 10 8  m/s  ​ = 3 · 10 –5  s = 30µs Diese Zeit ist wesentlich länger als die Halbwertszeit ruhender Myonen. Da die Halbwertszeit infolge der Zeitdilatation auf den Wert T 1/2 ( v ) = ​  T 1/2 __  ​ 9 ___ 1 – ​  v 2 _ c 2 ​​ ​ verlängert ist, kann ein wesentlicher Bruchteil der Myonen bis zur Erdoberflä- che vordringen und gemessen werden ( 18.2 ). Wir betrachten diese Situation nun vom Standpunkt eines Beobachters, der mit den Myonen zur Erdoberfläche fliegt. Für ihn ruhen die Myonen, und ihre Halb- wertszeit beträgt daher – gemessen mit seinen Uhren – nur T 1/2 =  1,52μs . Wieso können die Myonen die entgegenfliegende Erde dennoch erreichen? Wegen der Lorentzkontraktion ist eine Strecke H, die ein Beobachter mit der Ge- schwindigkeit v zurücklegt, für ihn auf H ( v ) = H ·  ​ 9 __ 1– ​  v 2 _ c 2 ​ ​verkürzt. Vom Standpunkt des mit den Myonen mitfliegenden Beobachters ist die Entfernung H zur Erde wesentlich kleiner als 10km. Daher können die kurzlebigen Myonen diese Ent- fernung innerhalb ihrer Halbwertszeit T 1/2 = 1,52μs leicht zurücklegen ( 18.3 ). 1.10 Erscheinungsbild von relativistisch bewegten Körpern Bei all unseren bisherigen Überlegungen über die Beobachtung von Positionen und Zeitpunkten von Ereignissen in verschiedenen Inertialsystemen haben wir die Existenz einer unendlich großen Anzahl von Beobachtern mit synchronisierten Uhren angenommen, die die Ereignisse protokollieren, die in ihrer unmittelbaren Umgebung stattfinden und danach anhand ihrer Aufzeichnungen den beobachte- ten Vorgang, wie z. B. den Vorbeiflug eines Körpers, rekonstruieren (S. 13). Was würde aber ein einzelner Beobachter sehen, der das Geschehen betrachtet oder filmt? Bis zum Ende der fünfziger Jahre des 20. Jh. dachte man, ein solcher Beobachter würde die Form eines mit relativistischer Geschwindigkeit an ihm vor- bei fliegenden Körpers genau so sehen, wie es die Formel der Lorentzkontraktion beschreibt, nämlich in Bewegungsrichtung um einen bestimmten Faktor verkürzt. Ein Würfel beispielsweise sollte demnach als Quader erscheinen, eine Kugel als Ellipsoid. Was man dabei übersehen hatte, war die Tatsache, dass bei der Beobach- tung durch einen einzelnen Beobachter die Laufzeit des Lichts eine Rolle spielt, das von den einzelnen Punkten des betrachteten Objektes ausgeht. Sind zwei Punkte eines Objektes, also etwa eines Würfels, verschieden weit vom Betrachter entfernt, so erreichen Lichtblitze, die von diesen Punkten zugleich ausgehen, den Beobachter nicht gleichzeitig (  19.1 ). Das Licht braucht vom weiter entfernten Punkt länger zum Auge des Beobachters. Das Bild, das der Beobachter zu einem bestimmten Zeitpunkt sieht, setzt sich also aus Lichtstrahlen zusammen, die zu verschiedenen Zeitpunkten vom Würfel aus- gegangen sind. Nehmen wir an, dass sich der Würfel von links nach rechts am Be- obachter vorbei bewegt, so sieht der Beobachter die weiter entfernten Würfelpunk- te dort, wo sie sich zu einem früheren Zeitpunkt befunden hatten als die näheren Würfelpunkte, nämlich weiter links. Es treten also scheinbare Verzerrungen auf. Dieser Unterschied zwischen der Beobachtung durch unendlich viele und durch einen einzelnen Beobachter macht eine genaue Unterscheidung zwischen den Be- griffen „beobachten“ und „sehen“ notwendig (s. Kapitel 1.6, S. 13). 19.1 Ein einzelner Beobachter sieht einen Würfel, der mit hoher Geschwindigkeit an ihm vorbeifährt, stark verzerrt und nicht, wie man früher vermutete, nur in der Bewegungsrich- tung verkürzt. In der dargestellten Computer- simulation fährt ein Würfel (Kantenlänge 1 Ls [Lichtsekunde]) auf Schienen an uns vorbei. Die Schwellen haben den Abstand von 1 Ls und sind so nummeriert, dass die Schwelle 0 uns gegenüberliegt und der Würfel sich dort zur Zeit t = 0 befindet. Der Würfel bewegt sich mit v = 0,8 c von links nach rechts. 19.2 Da bei der Annäherung eines Objektes nicht nur seine Entfernung abnimmt, sondern auch die Laufzeit des Lichtes immer kleiner wird, kann es geschehen, dass sich das Objekt scheinbar mit Überlichtgeschwindigkeit be- wegt. Der vom Kern der 450 Millionen Licht­ jahre entfernten Radiogalaxie 3C-120 ausge­ stoßene Gasstrahl bewegt sich scheinbar mit siebenfacher Lichtgeschwindigkeit! 19 | Relativitätstheorie Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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