Sexl Physik 7, Schulbuch

2.7 Erkenntnisprobleme der Quantenphysik „… ich kann davon ausgehen, dass niemand die Quantenmechanik versteht“, schrieb der amerikanische Physiker R ICHARD F EYNMAN (1918–1988), der für seinen Beitrag zur Quantenelektrodynamik 1965 den Nobelpreis erhielt. Er meinte damit, dass niemand weiß, warum sich Quantenobjekte so ungewohnt verhalten und warum die Rechenvorschriften der Quantenphysik bisher immer Ergebnisse in Überein- stimmung mit den Experimenten geliefert haben. Neben Schrödingers Wellenmechanik gibt es noch andere mathematische Formu- lierungen der Quantenphysik, z. B. H EISENBERGS Matrizenmechanik . Beide Formu- lierungen liefern dieselben Ergebnisse. Dadurch sind die Phänomene der Mikro- welt in gewissen Grenzen berechenbar geworden. Die Grenzen werden durch die Unschärferelation und die Wahrscheinlichkeitsinterpretation der Wellenfunktion gezogen. (Eine weitere Grenze besteht darin, dass die Schrödingergleichung für Systeme mit mehreren Elektronen nur näherungsweise gelöst werden kann.) Trotz dieses Erfolges führten die ungewöhnlichen Eigenschaften der Quantenob- jekte von Anfang an zu tiefen Meinungsunterschieden über die Interpretation der Quantenphysik. Besondere Bedeutung erlangte eine im Jahr 1935 ausgetragene wissenschaftliche Kontroverse zwischen Bohr und Einstein : In ihrem Verlauf diskutierte Einstein mögliche Experimente, um zu beweisen, dass die Quantenme- chanik nur eine unvollständige Beschreibung der Natur darstellt. Bohr bemühte sich, Einsteins Argumente zu widerlegen. Es dauerte fast 50 Jahre, bis Einsteins Gedankenexperimente – bekannt unter dem Namen EPR-Experiment – erstmals real durchgeführt werden konnten: Sie ergaben Übereinstimmung mit den Vorher- sagen der Quantenmechanik. Einstein und Schrödinger konnten sich mit der Vorstellung nicht abfinden, dass aus prinzipiellen Gründen nur Wahrscheinlichkeitsaussagen möglich sind. Ein- stein meinte dazu: „Gott würfelt nicht.“ Er vermutete, dass – was man heute als wi- derlegt ansieht – Quantenobjekte Eigenschaften haben, die uns verborgen sind, de- ren Kenntnis jedoch die Vorhersage von Einzelereignissen mit Bestimmtheit ermöglichen würde. Es stellt sich daher die Frage: Haben Elektronen einen Impuls, haben Photonen eine Polarisation, bevor diese Größen gemessen werden? Eine Antwort versuchte Niels Bohr bereits 1927mit der Kopenhagener Deutung zu geben, die aber von Einstein als „Beschwichtigungsphilosophie“ kritisiert wurde. Nach Bohr darf man nicht zwischen dem Verhalten der Objekte der Mikrowelt und dem Verhalten der zu ihrer Beobachtung notwendigen Geräte trennen. Ein Experi- ment sagt nichts über unabhängig existierende Eigenschaften der Objekte, sondern nur über ihr Verhalten bei bestimmten Fragestellungen: Eine Ortsmessung erfor- dert einen anderen experimentellen Aufbau als eine Impulsmessung. Etwas schär- fer formuliert: Ein Elektron ist nur dann ein Elektron, wenn es beobachtet wird. Bohrs philosophischer Standpunkt entsprang einer positivistischen Weltanschau- ung: Theorien sind nur Werkzeuge zur Herstellung von Beziehungen zwischen Beob- achtungen ohne Aussage darüber, was hinter den Phänomenen steckt. Die Quantenphysik gibt auch heute noch Anlass zu Diskussionen über ihre Inter- pretation. Bohrs Standpunkt erscheint manchen Physikern zu extrem. Nicht die tatsächlich durchgeführte Messung, sondern auch eine prinzipiell durchführbare Messung bestimmt den Ausgang eines Experiments. Der Beobachter als Person plant Experimente, die Registrierung der Messdaten erfolgt automatisiert. Viele Physiker anerkennen daher die historische Rolle der Kopenhagener Deutung, sie nehmen aber einen realistischen Standpunkt ein: Sie sind von der – von einem Be- obachter unabhängigen – Realität der Quantenobjekte überzeugt, wissen aber, dass Quantenobjekte neben scharfen auch unscharfe Eigenschaften besitzen, für die nur Wahrscheinlichkeitsaussagen möglich sind. 102.1 Mit dem Rastertunnelmikroskop (RTM) wurden Eisenatome auf einer Kupferober- fläche so positioniert, dass die japanischen Zeichen für Atom entstanden, anschließend wurden nicht nur die Fe-Atome, sondern auch die stehende Elektronenwelle im Kupfer (blau- grün) abgetastet. Berlin, 2.4.1926 Verehrter Herr Kollege! … Ich lese Ihre Abhandlung, wie ein neu- gieriges Kind die Auflösung eines Rätsels, mit dem es sich lange geplagt hat, voller Spannung anhört, und freue mich an den Schönheiten, die sich dem Auge enthüllen, die ich aber noch viel genauer … studieren muss, um sie voll erfassen zu können … Ihr Planck 102.2 Erste Reaktion von M AX P LANCK auf Schrödingers Wellenmechanik … kommt es vor allem darauf an, sich zu vergegenwärtigen, dass bei jedem Bericht über physikalische Experimente sowohl die Versuchsbedingungen als auch die Beob- achtungen mit Hilfe jener Verständigungs- mittel beschrieben werden, deren wir uns in der klassischen Physik bedienen … 102.3 Niels Bohr über „Atome und menschliche Erkenntnis“ [Der Erfolg der klassischen Physik] hat zu dem allgemeinen Ideal einer objektiven Be- schreibung der Welt geführt … Entspricht die Kopenhagener Deutung der Quanten- theorie noch diesem Ideal? … sicher ent- hält die Quantentheorie keine eigentlich subjektiven Züge, sie führt nicht das Be- wusstsein des Physikers als einen Teil des Atomvorgangs ein. Aber sie beginnt mit der Einteilung der Welt in den Gegenstand und die übrige Welt … 102.4 W ERNER H EISENBERG über die Kopenhage- ner Deutung 102 QUANTENPHYSIK Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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