Das Zahlenbuch 1, Begleitband für Lehrerinnen und Lehrer mit CD-ROM

164 Grundkonzeption des Zahlenbuchs zum Ziel führt. „Von außen“ kommt man dem Lernprozess und den dabei auftretenden Fehlern nicht bei, ganz abgesehen davon, dass es für die Lehrerin in einer Klasse mit 20 bis 30 Kindern gar nicht möglich ist, den Lernprozess jedes einzelnen Kindes genau zu verfolgen. Im aktiv-entdeckenden Unterricht wird mit Fehlern anders um- gegangen: Die Kinder erhalten zuerst einmal Zeit, um sich selbst an neuen Aufgaben zu versuchen, alleine oder im Austausch mit anderen Kindern. Auf diese Weise können sie die notwendige Verbindung zu ihrem Vorwissen am besten herstellen. Bei diesen ersten Versuchen werden auch Fehler auftreten, denn es gehört zum Wesen des Lernens, Fehler zu machen. Die Kinder brauchen natürlich eine Rückmeldung zu Fehlern, die sie selbst nicht er- kennen. Rezepte zur Fehlervermeidung gehen aber am Problem vorbei. Die Rückmeldung muss in erster Linie auf die Herstellung eines Verständniszusammenhangs abzielen. Damit werden die Kinder besser befähigt, von sich aus Fehler zu vermeiden, als durch von außen mitgeteilte Rezepte zur Fehlervermeidung, de- ren blinde Befolgung selbst eine Fehlerquelle ist. Notwendigkeit eines fachlichen Rahmens Zu welchen Leistungen Kinder bei der Erarbeitung eigener Lö- sungswege fähig sind, wurde empirisch in eindrucksvoller Weise nachgewiesen. Aus diesen Befunden darf aber nicht gefolgert werden, Kinder könnten „sich“ die Mathematik am besten „allei- ne“ erarbeiten und würden darin durch Fachstrukturen nur behin- dert. Der amerikanische Bildungsphilosoph und Pädagoge John Dewey (1859–1952) hat diesen Irrtum schon vor über 100 Jah- ren entlarvt: Reformpädagogen erwarten vom Kind, dass es Erkenntnisse aus seinem eigenen Geist heraus „entwickelt“ und für sich ausarbei- tet, ohne „fachliche Rahmenbedingungen“ zu benötigen. Aus dem Nichts kann aber nichts entstehen. Entwicklung heißt nicht, dass dem kindlichen Geist irgendetwas entspringt, sondern dass sub- stanzielle Fortschritte gemacht werden, und das ist nur möglich, wenn eine geeignete fachliche Umgebung zur Verfügung steht. Die Kinder müssen zwar von sich aus arbeiten, aber wie sie arbeiten, wird fast ganz von der Lernumgebung und dem Stoff, mit dem sie sich befassen, abhängen. Auch Tendenzen zu einer übertriebenen Individualisierung, wie sie auch heute wieder zu beobachten sind, hat Dewey eine ent- schiedene Absage erteilt: Die Befürworter individueller Lernprozesse argumentieren oft fol- gendermaßen: Gebt den Kindern gewisse Materialien, Werkzeuge, Hilfsmittel und lasst sie damit nach ihren ganz individuellen Wün- schen umgehen und sich frei entwickeln. Setzt den Kindern keine Ziele, gebt ihnen keine Verfahren vor. Sagt ihnen nicht, was sie tun sollen. All dies wäre ein ungerechtfertigter Eingriff in ihre heilige Individualität, denn das Wesen der Individualität ist es, gerade sich selbst die Zwecke und die Ziele zu bestimmen. Ein solcher Standpunkt ist töricht. Denn wenn man ihn einnimmt, versucht man etwas Unmögliches, was immer töricht ist, und man missversteht die Bedingungen für selbstständiges Denken. Es gibt viele Möglichkeiten offene Angebote wahrzunehmen und irgend- etwas zu machen, und es ist so gut wie sicher, dass diese eigenen Versuche ohne Anleitung erfahrener Lehrer zufällig, sporadisch und ineffektiv sein werden. Niemand würde bezweifeln, dass die persönliche Entwicklung in irgendeinem Lebensbereich durch die Nutzung der von anderen gesammelten Erfahrungen gefördert wird. Niemand würde z. B. ernsthaft vorschlagen, die Ausbildung von Schreinerlehrlingen solle beim Nullpunkt beginnen, d. h. ohne dass dem Lehrling Wissen über Mechanik, den Gebrauch von Werkzeugen, die Kenntnis von Materialien usw. vermittelt wird. Niemand käme auch auf die Idee, dass ein Schreinermeister, wenn er seinem Lehrling dieses Wissen vermittelt, den persönlichen Stil des Lehrlings einengen und seine individuelle Entwicklung behin- dern würde. Ein Erzieher und ein Lehrer haben dasselbe Recht und dieselbe Pflicht, die Kinder anzuleiten wie ein Handwerksmeister seine Lehrlinge. Der Erfolg des Mathematikunterrichts von der Volksschule bis zur Matura steht und fällt damit, dass das Prinzip des aktiv-entde- ckenden und sozialen Lernens organisch mit fachlichen Grund- ideen und allgemeinen Lernzielen verbunden wird. Wenn die Kinder in der Mathematik wirklich weiterkommen wollen, dürfen sie nicht bei ihren privaten Sichtweisen und Denkwegen stehen bleiben, sondern müssen sich in die bewährten Fachstrukturen einarbeiten und diese gemäß der im Fach liegenden Offenheit produktiv nutzen. Diese Aneignung wird durch eine schlüssige fachliche Strukturierung der Lernangebote, wie sie das Zahlen- buch verkörpert, wesentlich unterstützt. Die Kinder gelangen insbesondere nicht von sich aus zu einem Verständnis typisch „theoretischer“ Aspekte der Mathematik (z. B. der Erfassung der Allgemeingültigkeit von Rechengesetzen, der Abstraktheit von Begriffen oder der zwingenden Logik einer mathematischen Argumentation), sondern müssen im Unterricht dazu angeregt werden. Ziel des Unterrichts kann es nicht sein, dass jedes Kind seine „private Mathematik“ entwickelt, sondern dass es dieWerk- zeuge, die sich als effektiv erwiesen haben, individuell nutzt. Auch der einzelne mathematische Forscher erfindet nicht seine eigene Welt, sondern arbeitet eingebettet in das soziale Netzwerk der Wissenschaft Mathematik. Entwicklung von Bewusstheit („Metakognition“) Eine dem Lernen übergeordnete wichtige Aufgabe der Lehrper- son besteht darin, die Kinder anzuregen, Besonderheiten der Mathematik wahrzunehmen, ihre Lernprozesse selbst zu steuern und Verantwortung für ihre Lernfortschritte zu übernehmen. Man muss mit den Kindern z. B. über die grundsätzliche Freiheit von Rechenwegen, über Schwierigkeiten beim Lernen und ihre Über- windung, über den Nutzen der Zusammenarbeit, über den Sinn des Blitzrechnens, usw. sprechen. Die Entwicklung von Bewusstheit verlangt Geduld und Beharrlich- keit, weil sich der Erfolg bei der Mehrheit der Kinder naturgemäß nur langfristig einstellt. Je mehr Bewusstheit die Kinder aber ent- wickeln und je mehr sie sich für ihr Lernen verantwortlich fühlen, desto mehr werden Lehrer entlastet. Insofern liegt es in deren ureigenem Interesse, die Bewusstheit der Kinder für ihr Lernen zu fördern. Nur zu Prüfzwecken – Eig ntum des Verlags öbv

RkJQdWJsaXNoZXIy ODE3MDE=