Das Zahlenbuch 1, Begleitband für Lehrerinnen und Lehrer mit CD-ROM

162 Grundkonzeption des Zahlenbuchs 2. Aktiv-entdeckendes und soziales Lernen Nicht Leitung und Rezeptivität, sondern Organisation und Aktivität ist es, was das Lehrverfahren der Zukunft kennzeichnet. Johannes Kühnel: Neubau des Rechenunterrichts, 1916 Das für die Konzeption zentrale didaktische Prinzip des aktiv- entdeckenden und sozialen Lernens gründet sich auf aktivisti- sche Lerntheorien, insbesondere die genetische Psychologie des Schweizer Psychologen Jean Piaget (1896–1980), ist aber auch fundamental mit der Mathematik verbunden. HeinrichWinter hat dieses Prinzip 1985 prägnant formuliert: Den Aufgaben und Zielen des Mathematikunterrichts wird in be- sonderem Maße eine Konzeption gerecht, in der das Mathematik- lernen als ein konstruktiver, entdeckender Prozess aufgefasst wird. Der Unterricht muss daher so gestaltet werden, dass die Kinder möglichst viele Gelegenheiten zum selbsttätigen Lernen in allen Phasen eines Lernprozesses erhalten. Die Aufgabe des Lehrers besteht darin, herausfordernde Anlässe zu finden und anzubieten, ergiebige Arbeitsmittel und produktive Übungsformen bereitzustellen und vor allem eine Kommunikation aufzubauen und zu erhalten, die demLernen aller Kinder förderlich ist. Aktiv-entdeckendes und soziales Lernen verlangt eine ständige Durchdringung inhaltlicher und allgemeiner Lernziele und lässt sich daher nicht in einem kleinschrittigen Unterricht verwirk­ lichen, in dem der Stoff Häppchen für Häppchen vermittelt wird und die Lösungswege sowie die äußere Form der Lösung anhand von Musteraufgaben festgelegt sind. Sinnvoll ist vielmehr eine ganzheitliche Behandlung von Rahmenthemen, z. B. des Eins­ pluseins und des Einmaleins. Ganzheitliche Behandlung von Rahmenthemen in mehreren Durchgängen Namentlich im ersten und zweiten Band gibt es Rahmenthemen, die in mehreren Durchgängen erarbeitet werden müssen. Die ers- ten Durchgänge dienen der Orientierung und Einführung, die wei- teren der Übung, Vertiefung und Ergänzung. Bei arithmetischen Rahmenthemen steht am Schluss immer die Automatisierung. Jedes Kind kann bei diesem Vorgehen an seine individuellen Voraussetzungen anknüpfen und hat genügend Zeit, um sein Wissensnetz von Durchgang zu Durchgang zu erweitern und zu festigen. Wie eingangs schon angemerkt, sind Lücken bei einem Durchgang kein Hindernis für sinnvolles Lernen im nächsten Durchgang. Da der Lernprozess die Lernziele immer wieder neu und von einer anderen Seite aus ansteuert, gibt es für die Kinder genügend Möglichkeiten, um ihre Lücken allmählich zu schließen. Es besteht kein Grund zur Sorge, dass Kinder „abgehängt“ werden. Beispiel 1: Einspluseins (Band 1) 1. Durchgang: Einführung der Addition am Zwanzigerfeld (Sei- ten 49–57 ) 2. Durchgang: Einführung der Subtraktion am Zwanzigerfeld unter Bezug auf die Addition (Seiten 58–65 ) 3. Durchgang: Verzahnung von Addition und Subtraktion (Sei- ten 70–75 ) 4. Durchgang: Vertiefung des Einspluseins an der Einspluseins- Tafel (Seiten 86–93 ) 5. Durchgang: Weitere produktive Übungen (Seiten 108–109, Seiten 114–123) 6. Durchgang (parallel zu den Durchgängen 3–4): Automati- sierung im Blitzrechenkurs Beispiel 2: Orientierung im Hunderterraum (Band 2) 1. Durchgang: Hunderterfeld (Seiten 17–19) 2. Durchgang: Hundertertafel (Seiten 20–21) 3. Durchgang: Hunderterreihe (Seiten 22–25) 4. Durchgang: Nochmals Hunderterfeld (Seiten 32–33) 5. Durchgang: Automatisierung (Blitzrechenübungen „Welche Zahl?“, „Ergänzen auf den Zehner“, „Ergänzen auf 100“, „100 teilen“) Der ganzheitliche Zugang unterscheidet sich grundlegend vom traditionellen Zugang. Für Lehrerinnen und Lehrer, die zum ers- ten Mal nach dem neuen Konzept unterrichten, kostet es daher Mut und Überwindung, trotz anscheinender Lücken bei einigen Kindern im Unterricht weiterzugehen, wie es das neue Konzept verlangt. Wenn dieser Mut nicht aufgebracht wird, sind Schwie- rigkeiten vorprogrammiert und der Erfolg wird beeinträchtigt: Ganzheitliche Themen sperren sich gegen eine kleinschrittige Behandlung. Vorteile der ganzheitlichen Behandlung Lernen in Ganzheiten ist für die Kinder nicht etwa schwerer, son- dern leichter, wie die englische Psychologin Margaret Donaldson festgestellt hat: Es scheint eine weit verbreitete Meinung zu sein, man dürfe Kinder anfangs nicht mit der Komplexität eines Stoffgebietes konfrontie- ren, da sie komplizierte Sachverhalte unmöglich bewältigen könn- ten. Ich teile diese Ansicht nicht. Die Ursache für diesen Irrtum liegt m. E. darin, dass zwei grundverschiedene Dinge nicht auseinan- der gehalten werden, nämlich eine ganzheitliche, grobe Übersicht über das Stoffgebiet einerseits und die Beherrschung aller seiner Einzelheiten andererseits. Die Kinder benötigen natürlich geraume Zeit, um alle möglichen Einzelheiten zu lernen. Es ist aber keine Frage, dass ihnen das leichter fällt, wenn sie über die Gesamtheit der anstehenden Lernaufgaben richtig vorinformiert sind. Durch die ganzheitlichen Zugänge zu Rahmenthemen wird das bewährte Prinzip „Vom Leichten zum Schweren“ keinesfalls aufgehoben. Es wird nur anders realisiert als traditionell üblich. Beim Einspluseins z. B. sind nicht nur die Aufgaben im Fünferraum leicht, sondern auch Aufgaben mit einem Summanden 1, Auf- gaben mit einem Summanden 5, Aufgaben mit dem Ergebnis 10 und Verdopplungsaufgaben. Es ist daher sehr sinnvoll, solche Aufgaben als erste Fäden des Netzes „Einspluseins“ zu spannen und andere Aufgaben daran anzuknüpfen. Lernen in Ganzheiten trägt auch ganz wesentlich zur Zieltranspa- renz bei: Die Kinder können sich schonwährenddes Lernprozesses klar machen, was sie schon können, wo sie noch Schwierigkeiten haben und was sie noch lernen müssen. Der ganzheitliche Zugang wird dadurch unterstützt, dass grund- sätzlich nur Arbeitsmittel verwendet werden, die eine Gesamt- N r zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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