global 7. Geographie und Wirtschaftskunde, Schulbuch
12 Fallbeispiel Kompetenzorientiertes Lernziel Qualitäten österreichischer Grenzen seit dem 20. Jahr- hundert in ihren diversen Auswirkungen erläutern M1 Verlagerung des Güterverkehrs von der Straße auf die Schiene Mit 18 Stundenkilometern durch Europa Die Bahn kann sich im Wettbewerb der Güterverkehrsträ- ger nicht behaupten, weil Kleinstaaterei und Konkurrenz- verhinderung Zugtransporte unwirtschaftlich machen, sagt der EU-Rechnungshof. Geld allein hilft nicht weiter. Seit ca. 50 Jahren gehört die Verlagerung von Gütertrans- porten von der Straße auf die umweltfreundlichere Schie- ne zum Standardrepertoire europäischer Ankündigungs- verkehrspolitik. Und ebenso lang läuft es in die andere Richtung: Es wird massiv auf die Straße verlagert. Prak- tisch der gesamte Zuwachs des Güterverkehrs seit 1960 ist von den Lastwagenflotten aufgesogen worden. Und die Entwicklung ist noch nicht gestoppt: Seit 2000 ist der Anteil der Schiene am gesamten EU-Binnengüter- verkehr von 19,7 auf unter 18 Prozent zurückgegangen (in Österreich liegt der Anteil allerdings über 30 Prozent). Jener der Straße ist dagegen von 73,7 auf 75,4 Prozent gestiegen. Keine gute Entwicklung, wenn man bedenkt, dass die EU-Kommission 2011 das Ziel festgeschrieben hat, bis 2030 30 Prozent und bis 2050 50 Prozent des Güterverkehrs von der Straße wegzubekommen. Aber woran liegt es, dass die Kluft zwischen politischem Anspruch und Wirklichkeit immer größer wird, obwohl seit vielen Jahren, bezogen auf die Verkehrsleistung, deutlich mehr in die Schiene als in die Straße investiert wird? Der EU-Rechnungshof hat den EU-Bahngüterverkehr auf Herz und Nieren geprüft und ist in dem vor einigen Wo- chen veröffentlichten Schlussbericht zu einem (wohl nur für die EU-Bürokraten) verblüffenden Ergebnis gekom- men: „Verlader“, heißt es darin wörtlich, „entscheiden sich für eine Beförderungsart anhand betriebswirtschaftlicher Kriterien und nicht mit Blickpunkt auf die politischen Schwerpunkte der EU.“ Ein Problem, weil die Bahn unter diesem Blickpunkt nicht wettbewerbsfähig sei. Das Prob- lem sei nicht so sehr das Geld als vielmehr „strategische und regulatorische Faktoren“. „Insgesamt“, so der Rechnungshof, seien „die Bemühun- gen um Ausweitung des Schienenverkehrs nicht wirksam gewesen“, obwohl die EU im Beobachtungszeitraum (2007 bis 2013) insgesamt 28 Mrd. Euro für die Kofinanzierung von Eisenbahnprojekten ausgegeben habe. „Dem Schienengüterverkehr ist es in den vergangenen 15 Jahren nicht gelungen, sich im Wettbewerb gegenüber dem Straßenverkehr angemessen zu behaupten“, heißt es. Wie denn auch, wenn bis heute kein vernünftiger euro- päischer Eisenbahnmarkt zustande gekommen ist. Das äußert sich unter anderem darin, dass international ver- kehrende Güterzüge laut Rechnungshof in Europa mit heißen 18 Stundenkilometern Durchschnittsgeschwindig- keit unterwegs sind. Das sei auf die „unzulängliche Zu- sammenarbeit der Infrastrukturbetreiber“ zurückzuführen. Lastwagen bringen es vergleichsweise auf 60 Stunden- kilometer Schnitt. Der Grund ist klar: Es gibt in der EU 26 unterschiedliche Eisenbahnsysteme mit unterschiedlichen Signalsystemen, teilweise sogar unterschiedlichen Spurweiten. Es gibt, anders als im Flugverkehr, keine einheitliche Kommuni- kationssprache. An Binnengrenzen müssen also umständ- lich Lokführer, oft auch Loks gewechselt werden. Und die meist staatlichen Ex-Monopolisten tun alles, um das Auf- kommen privater Wettbewerber niederzuhalten. Das ist jetzt keine Polemik, sondern die Zusammenfas- sung der Erkenntnisse der Rechnungshofprüfer. Irgendwie blöd, denn ein vernünftiges Verkehrssystem, das die Stär- ken der einzelnen Verkehrsträger ausspielt, würde der Eisenbahn die Transporte über lange Strecken zuweisen, während der flexiblere Lkw die Verteilung in die Fläche übernimmt. Langstrecke heißt in Europa allerdings Grenz- überschreitung mit allen damit verbundenen administra- tiven und sonstigen Schikanen. Dazu kommt eine grauenhafte bürokratische Inflexibilität der meist den früheren Monopolisten gehörenden Infra- strukturgesellschaften: Trassen müssen bis zu einem Jahr im Voraus angemeldet werden, bekritteln die Prüfer. Wer kurzfristig Transport benötigt, bekommt Probleme – und nimmt dann eben den Lkw. Zumal er sich damit auch den vergleichsweise schlechten Kundendienst erspart, den der Rechnungshof bei der Bahn ebenfalls bemängelt. Die angepeilte und nie erreichte Transportverlagerung auf die Schiene ist also keine Geld-, sondern eine Organisations- frage. Noch so viele Investitionsmilliarden in die Infra- struktur nutzen gar nichts, wenn Kleinstaaterei und Schre- bergartenmentalität ein vernünftiges europäisches Transportsystem verhindern. Das ist auch für Österreich interessant, wo derzeit äußerst intensiv in den Streckenausbau investiert wird. Besonders in die sogenannte Baltisch-Adriatische-Verkehrsachse, für die die EU-Rechnungsprüfer eine besonders bedenkliche Entwicklung konstatieren: Nirgendwo in der EU ist in den vergangenen Jahren der Schienentransport so stark ge- schrumpft wie in Tschechien und in Polen. Also den Räu- men, aus denen das große Transitvolumen für diese Achse eigentlich herkommen sollte. Fazit: Zu glauben, man könnte eine Transportverlagerung auf die Schiene bloß mit finanziellen und regulatorischen Schikanen für den Lkw-Verkehr erreichen, ist ziemlich naiv. Die Verlagerungsbremse ist der erbärmliche Zustand der europäischen Bahnzusammenarbeit. Da sind die Verkehrs- minister gefragt, nicht die Steuereintreiber. (http://diepresse.com/home/wirtschaft/kolumnen/diebi- lanz/5082374/Mit-18-Stundenkilometern-durch-Europa, Josef Urschitz, 8. 9. 2016, abgerufen am 20. 4. 2017) Grenzen im Eisenbahnverkehr Nur zu Prüfzwecken – Eige tum des Verlags öbv
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