sprachreif 4, Band für Lehrerinnen und Lehrer

18 Monumentalität des Ganzen. Ich habe keinen Sinn mehr für die weite, allumfassende Armbewegung des Weltbühnenhelden. Ich bin ein Spaziergänger. Vor einer Litfaßsäule, auf der Tatsachen, wie zum Bei- spiel Manoli-Zigaretten, so groß angekündigt sind, als wären sie ein Ultimatum oder ein Memento mori, ver- liere ich den Respekt. Irgendwie, glaube ich, offenbart sich da die Zwecklosigkeit eines Ultimatums und einer Zigarette in der Art, in der beide zum Ausdruck kom- men. Was sich groß ankündigt, ist gering an Gehalt und Gewicht. Und ich denke, daß nichts in dieser Zeit ist, was sich nicht groß ankündigte. Darin besteht ihre Größe. Ich sehe die Typographie zur Weltanschauung entwickelt. Das Wichtigste und das minder Wichtige und das Unwichtige sind nur wichtig, minder wichtig, unwichtig erscheinende Angelegenheiten. Nur aus ih- rem Bild lesen wir den Wert ab, nicht aus ihrem We- sen. Das Ereignis der Woche ist dasjenige, das durch Druck, Geste, ausholende Armbewegung zum Ereig- nis der Woche ernannt wurde. Nichts ist, alles heißt. Vor dem Sonnenglanz aber, der rücksichtslos über Wand, Straße, Schiene sich ausbreitet, in Fenster hin- einstrahlt, aus Scheibenglas tausendfach geballt zu- rückstrahlt, verschwindet das aufgeplusterte Unwe- sentliche. Unwesentlich, glaube ich (durch den Druck, durch die Typographie als herrschende Weltanschau- ung irregeführt), ist alles, was wir wichtig und voll nehmen: die Manoli-Zigarette und das Ultimatum. Am Ende der Stadt aber, wo, wie ich gehört habe, die Natur beginnen soll, ist nicht sie da, sondern die Lese- buch-Natur. Ich glaube, auch über die Natur ist zu viel schon gedruckt worden, als daß sie hätte bleiben kön- nen, was sie gewesen ist. An ihrer Stelle steht, breitet sich in der Umgebung der Städte die Begriff-Natur, der Naturbegriff, aus. Eine Frau, die am Waldrand einen zur Vorsicht für alle Fälle mitgenommenen Regen- schirm vor die Augen hält, weitebetrachtend auf einen Fleck stößt, der ihr aus einem Wandgemälde bekannt vorkommt, ruft aus: „Wie gemalt!“ Das ist die Unter- stellung eines feststehenden eng umgrenzten, wohl beschriebenen Begriffs von der Natur als Malermodell. Die Unterstellung ist nicht so selten. Denn auch unser Verhältnis zur Natur ist ein unwahres geworden. Sie hat nämlich einen Zweck bekommen. Ihre Lebensauf- gabe ist unser Amüsement. Sie besteht nicht mehr ih- retwegen. Sie besteht eines Zweckes wegen. Sie hat im Sommer Wälder, in denen man schlummern kann, Seen zum Rudern, Wiesen zum Abgebranntwerden, Sonnenuntergänge zum Entzücken, Berge für die Tou- ristik und Schönheiten für den Fremdenverkehr. Sie kam in den Baedeker. Aber was ich sehe, kam nicht in den Baedeker. Was ich sehe, ist das unerwartet plötzliche, ganz grundlose Auf- und Abschwingen einer Mückenschar um einen Baumstamm. Der Schattenriß eines holzbeladenen Menschen auf dem Wiesenpfad. Die dünne Physiog- nomie eines Jasminzweiges, über den Gartenmauer- rand gelehnt. Das Verzittern einer fremden Kinder- stimme in der Luft. Die unhörbare schlafende Melodie eines fernen, vielleicht sogar unwirklichen Lebens. Menschen, die ich zum Naturgenuß wandern sehe, be- greife ich nicht. Der Wald ist keine Diele. „Erholung“ ist keine Notwendigkeit, wenn sie das bewußte Ziel des Wanderers ist. Die „Natur“ ist keine Einrichtung. Der Westeuropäer wandert in die „Natur“ hinaus, wie er zu einem Kostümfest geht. Er hat ein Lodenjoppen- verhältnis zur Natur. Ich sah Männer wandern, die Buchhalter sind. Sie brauchten keine Stöcke. Der Bo- den ist so eben und sanft, daß ein mäßiger Federhalter genügen würde. Er sieht aber nicht, der Mensch, den sanften, ebenen Boden. Er sieht „Natur“. Wenn er se- geln wollte, so würde er vermutlich einen weißen An- zug aus Rohseide tragen, Erbstück seines Großvaters, der auch segelte. Er hört nicht den Plätscherklang der Welle und weiß nicht, daß wichtig das Zerplatzen ei- ner Wasserblase ist. An dem Tage, an dem die Natur ein Kurort wurde, war’s aus. Infolge aller dieser Tatsachen ist mein Spaziergang der eines Griesgrams und vollständig verfehlt. QUELLE: Roth, Joseph: Spaziergang. – In: Ders.: Werke. Hrsg. v. Fritz Hackert und Klaus Westermann. Das journalistische Werk. Band 1: 1915−23. Köln, Amsterdam: Kiepenheuer & Witsch 1989/90. S. 1348−1355. 66 68 70 72 74 76 78 80 82 84 86 88 90 92 94 96 98 100 102 104 106 108 110 112 114 116 118 120 122 124 126 128 130 132 134 136 138 140 142 Nur zu Prüfzw cken – Eigentum des Verlags öbv

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