sprachreif 4, Band für Lehrerinnen und Lehrer

15 Aber nur die Leidenschaft der Versagung. Sie entsteht aus der Versagung aller Leidenschaften. Und sie ist die gefährlichste von allen, da sie zum Fanatismus ten- diert – und auch dazu, noch über die Leiche des versa- genden Subjekts zu gehen. Sie preisen das Mondäne. Wo findet man das heute noch? Es scheint gegenwärtig an die äußersten Pole der Ge- sellschaft zu driften: entweder ganz nach oben, zu den Repräsentanten obszönen Reichtums, wie etwa Silvio Berlusconi, oder im Gegenteil zu den Unterschichten, die keine Aussicht auf Respektabilität sehen. In beiden Fällen bekommt es dadurch etwas Abstoßendes, Ab- schreckendes –, und genau in dieser Form wollen die immer ärmeren, aber immer anständigeren Mittel- schichten es offenbar auch vorgeführt bekommen. In den Siebzigerjahren hingegen schien ein wenig Mon- dänität, ähnlich wie schöne Autos, elegante Architek- tur, brauchbares Fernsehen oder gute Filme, eine Art gesellschaftlichen Normalstandard zu bilden. Heute hingegen dient den gewöhnlichen Leuten das Unge- wöhnliche nur als Anlass, sich darüber zu entrüsten und sich über dessen Nichtbesitz erleichtert zu zeigen. Was ist der Grund dafür? Um ihre alltäglichen Schranken hinter sich zu lassen, brauchen Menschen meist eine Art kulturellen Befehl. Wenn ich zum Beispiel in eine Bar mit gedämpftem Licht komme, in der leiser, cooler Jazz gespielt wird, höre ich gleichsam eine Stimme, die zu mir sagt: „Jetzt benimm dich nicht wie ein Kind und bestell dir ja kein Mineralwasser.“ Ohne solche Aufforderungen ver- kümmert die Genussfähigkeit der Menschen recht schnell. Manche wollen, wenn sie allein zu Hause sind, nicht einmal essen. Was sich in den westlichen Kultu- ren diesbezüglich verändert hat, ist – wie der amerika- nische Soziologe Richard Sennett erkannte –, der Um- stand, dass der öffentliche Raum zunehmend liqui- diert wird. Im öffentlichen Raum nämlich hatte man etwas eleganter zu sein, etwas weniger empfindlich und etwas fröhlicher aufzutreten, als man sich fühlte. Genau das wird aber heute – oft noch mit dem Gefühl der Befreiung – als „normierend“ zurückgewiesen. Eine Ihrer Diagnosen ist: „Menschen wollen nur noch ihr Eigenstes und nichts Ichfremdes mehr an sich ertragen.“ Geht es Ihnen selbst zuweilen auch so? Meine Kritik richtet sich gegen bestimmte, scheinbar rebellische Impulse und Reflexe, die ich – als sozusa- gen später Erbe der 68er-Bewegung – durchaus an mir selbst spüre. Von Philosophen wie Baruch de Spinoza oder Louis Althusser aber lässt sich hier lernen, dass nicht alles, was als rebellisch oder befreiend empfun- den wird, es auch wirklich ist. Sie vertreten die Ansicht, dass die Sorge um das Ich dem Genuss im Wege stehe. Das klingt nach einem Widerspruch, weil doch die Gedanken des Narziss- ten allein um sein Wohlbefinden kreisen, oder? Für den Narzissten ist charakteristisch, dass er lieber gut sein möchte als glücklich; lieber selbstoptimiert als heiter; lieber gesund als gesellig. Solange man sich von anderen – zum Beispiel von der älteren Generation oder dem anderen Geschlecht – unterdrückt fühlt, kann man meinen, man wäre frei und glücklich, wenn man nur dem eigenen Willen folgte. Sobald man aber diesem Prinzip wirklich folgt, muss man feststellen, dass das, was man selbst will, leider furchtbar wenig ist. Denn zum Glück und auch zur Freiheit gehört im- mer ein Stück von Sich-Einlassen auf andere oder an- deres. Dass diese einfache Tatsache übersehen wurde, hat, wie ich meine, unter anderem dazu geführt, dass die sogenannte sexuelle Befreiung so schnell in eine Stimmung der „Postsexualität“ umgekippt ist und dass die Lust auf die Welt und der Hunger nach Freiheit sich gewendet haben in Überdruss, Gouvernan- ten-Mentalität und Politikverdrossenheit. […] Sie predigen wider die Mäßigung. Aber hat die von Max Weber beschriebene Askese im Kapitalismus uns nicht weit gebracht? Dass der Reichtum der Kapitalisten – und in der Folge der kapitalistischen Gesellschaften – auf ihrer religiös geschulten Fähigkeit zur Versagung beruht, haben wohl vor allem diese selbst gerne geglaubt. Auf den Bildern eines George Grosz zum Beispiel sehen die aber ganz anders aus. Hundert Jahre nach Max Webers Studie bietet Deutschland übrigens genau das umge- kehrte Bild zu dem, das er beobachtete. Seit Neuerem prosperiert vor allem der exzessive katholische Süden, während der protestantische, arbeitsethische Norden eher Stagnation und hohe Arbeitslosigkeit aufweist. Dass kapitalistische Produktion eine enorme Diszipli- nierung vor allem der Ausgebeuteten voraussetzt, ist unbestritten. Ob hingegen die Profiteure dieser Pro- duktionsweise sich in Gesten der Abstinenz oder aber der glamourösen Repräsentation gefallen, ist von an- deren Faktoren abhängig. Übrigens sind auch die heu- tigen, modischen Abstinenzgesten vom Typ „Weniger ist mehr“ immer ziemlich kostspielig und bleiben da- rum ein auf Eliten beschränktes Distinktionsverhal- ten. Ein Grund für Freudlosigkeit sei Neid, sagen Sie: Wir könnten das Glück anderer nicht ertragen. Was auf- 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62 64 66 68 70 72 74 76 78 80 82 84 86 88 90 92 94 96 98 100 102 104 106 108 110 112 114 116 118 120 122 124 126 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum de Verlags öbv

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