sprachreif 4, Schulbuch

95 scher, der gerade eine neue Schokoladenmarke auÇaut (nach Bier und Ka²ee der nächste große Craœ-Trend), und der kanadische Gra¤ker, der sein Geld größtenteils an der Wall Street gemacht hat. Es ist schon wieder unglaublich heiß, die Männer tragen Badehosen, der Schweiß tropœ auf die Yogamatten. Konzentrierte Gesichter, verrenkte Körper, fast alle besuchen täglich Klas- sen, hier oder in einem der unzähligen Studios. „Und jetzt sind wir Schmetterlinge und ³iegen 500 Meter weit“, sagt der philippinisch-kanadi- sche Maler. Die Beine im Schneidersitz angewin- kelt, wippen neun Paar Knie. „Und nun: glückli- che Babys.“ Auf dem Rücken liegend fassen alle mit den Händen die nackten Füße und rollen hin und her. Als sich der Himmel am Horizont hinter den Palmen orangerosa verfärbt und die holländi- sche Illustratorin in der Wolkenform ein schla- fendes Herz erkennt und noch immer niemand auf der Straße ist und alle Häuser in der Dunkel- heit versinken, damit die Dämonen an der Insel vorbeiziehen, sagt Georgio, der Bulgare: „So müssen sich in früheren Zeiten Sonntage ange- fühlt haben.“ Es ist eigentlich egal, welcher Wochentag gerade ist, ja sogar, welche Uhrzeit. Nur Samstag und Sonntag helfen noch ein bisschen bei der Orien- tierung. Wer keine Skype-Termine und keine nahen Deadlines hat, macht Freizeitpläne. Die angesagteste Party der Insel findet samstag- abends in Ubud statt. Um sieben Uhr, als der ka- nadische Gra¤kdesigner und der Programmierer aus dem Silicon Valley an der auf Facebook ange- gebenen Adresse aus dem Taxi steigen, tanzen bereits 200 Menschen barfuß vor und in der Privatvilla. Die meisten hier sind single. Eine feste Beziehung ohne festes Zuhause – das passt nicht gut zusammen. Verliebt man sich in eine sesshaœe Person, kommt irgendwann der Moment des Abschieds. Das Ideal wäre: sich in jemanden mit dem gleichen Lebensstil zu verlie- ben und gemeinsam um die Welt zu ziehen. Demnächst soll eine Dating-Plattform für digita- le Nomaden online gehen. Es geht aber um viel mehr als die Suche nach dem persönlichen Glück. Was hier gelebt wird, ist die Utopie einer neuen Gesellschaœ. Vielleicht ist es wie mit den Hippies der 68er: Erst werden sie als Spinner abgetan, manche Ideen werden sich als Irrtum entpuppen, andere als viel zu ex- trem. Aber ihre Vision wird die Gesellschaœ für immer verändern. Wie die Hippies die Erzie- hung und die Sexualmoral revolutionierten, wer- den die digitalen Nomaden unsere Arbeitswelt umwälzen. Um halb zehn wird die Musik leiser, ein Mann um die 50 in einer schwarzen Kutte, die brustlan- gen Haare leicht angegraut, bittet zur Meditation. Als alle im Schneidersitz auf dem Boden sitzen, spricht er mit leiser, warmer Stimme ins Mikro- fon: „Wir danken für die Samen der Menschlich- keit, die wir gemeinsam säen, mit der Art, wie wir tanzen, wie wir leben und wie wir sind.“ Er bläst in ein Didgeridoo, die Feiernden liegen rücklings auf dem Marmorboden, Augen ge- schlossen. Dann ist die Party vorbei. Um zehn gehen alle nach Hause, nüchtern und ausge- powert. Morgen werden sie mit den ersten Sonnenstrah- len wieder aufstehen. UmYoga zu machen. Oder um zu arbeiten. QUELLE: https://blendle.com/i/neon/reif-fur-die-arbeit/bnl-neon-20170109-118758?sharer=eyJ2ZXJzaW9uIjoiMSIsInVpZCI6ImthdGhyaW5zY2hyYWdsIiwiaXR- lbV9pZCI6ImJubC1uZW9uLTIwMTcwMTA5LTExODc1OCJ9 ; (abgerufen am 17.08.2017) . Der Text ist ursprünglich erschienen im Schweizer Magazin „Das Magazin“. 314 316 318 320 322 324 326 328 330 332 334 336 338 340 342 344 346 348 350 352 354 356 358 360 362 364 366 368 370 372 374 376 378 380 382 384 Schriftliche Kompetenz N u r zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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