sprachreif 4, Schulbuch

93 Holländer Pieter Levels. Er betreibt das Noma- denhandbuch nomadlist.com und hält Vorträge über den Wandel des Arbeitslebens: Anfang der Nullerjahre haben in den USA nur 15 Prozent der Berufstätigen freiberu³ich gearbeitet, heute sind es 30 Prozent. Schätzungen zufolge werden es in 20 Jahren über 50 Prozent im Westen sein – jeder zweite Mensch in der westlichen Welt wird dann keine feste Stelle mehr haben. Pieter Levels Prognose: Jeder dritte Freiberu³er könnte im Jahr 2035 ein digitaler Nomade sein, nicht nur Menschen aus dem Westen, sondern auch aus Entwicklungs- und Schwellenländern. Insge- samt eine Milliarde Menschen. Die Nomaden von Bali sind ihnen voraus. Sie sourcen sich schon heute selbst aus. Manche Roam-Bewohner sind noch im Modus des sehr langen Auslandsaufenthalts, wie die Bri- tin Terri, andere haben schon seit Jahren kein Zuhause mehr, wie der Bulgare Georgio. Als er vor acht Jahren die Schule verließ und den Ent- schluss fasste, um die Welt zu ziehen, schlief er erst mal einen Winter lang in New York bei Freunden auf einer Luœmatratze. „Heute mag das glamourös klingen“, sagt er, „aber ich war borderline obdachlos.“ In Costa Rica hat er eine Vermittlungsagentur für Sprachschulen gegrün- det, in Schweden ein Studium in Unternehmer- tum absolviert und in London für Techstars ge- arbeitet, den wichtigsten Beschleuniger für Unternehmensgründungen. In Costa Rica war der Kontakt zu den Einheimischen besser und der Zeitunterschied zu den Vereinigten Staaten geringer, aber die Infrastruktur auf Bali ist un- schlagbar: wahnsinnig günstig, kaumKriminali- tät, kurze Wege (auch zum Strand) und das In- ternet schneller als überall sonst. Blasse Haut im Sommerparadies Wenn diese Insel einen Nachteil hat, dann den, dass Georgio, der eine Firma mit mehreren An- gestellten leitet, sich ständig rechtfertigen muss. Die Menschen im Westen können sich nämlich nicht vorstellen, dass im Ferienparadies Bali ir- gendjemand ernsthaœ arbeitet. „Meine Eltern denken noch immer: Erfolgreiche Menschen le- ben in London oder New York“, sagt er. Dabei arbeite er auf Bali fokussierter als in einem ver- glasten Büro einer abendländischen Metropole. Schwer zu sagen, wie viele Westler sich mit Note- book auf Bali auÃalten, einige Tausend dürœen es schon sein. Seit drei Jahren schießen soge- nannte Coworking Spaces aus dem Boden wie Reisp³anzen in der Regenzeit. Der erste war Hu- bud – Hub in Ubud. Mehrere Hundert Mitglie- der, Skype-Kabinen, klimatisierte Sitzungsräu- me, Schreibtische unterm Ventilator mit Blick auf Bananenpalmen. Am Eingang stapeln sich die Flip³ops, drinnen sind alle barfuß. Manch- mal klettert ein IJchen aus dem angrenzenden Wald über die Mauer. Junge Frauen und Männer auf Sitzsäcken und in Hängematten gestikulieren in ihr Smartphone. Der kalifornische Program- mierer aus dem Roam hat sich Hubud mal ange- schaut und war ein bisschen schockiert, dass die Menschen hier noch ernsthaœer arbeiten. Alle versunken in ihre Bildschirme, Unterhaltungen nur im Flüsterton. Trotz 33 Grad im Schatten sind manche so blass, als seien sie lange nicht mehr an der Sonne gewesen. Social Cooking statt Social Media: Die Roam-Bewohner bereiten gemeinsam den Lunch zu Was früher das HomeoÆce war, heißt heute re- mote. Nicht nur Freelancer, sondern auch immer mehr Angestellte sitzen nicht mehr in einem Fir- mengebäude, sondern arbeiten aus der Ferne: Beim Medienunternehmen Buzzfeed sind es 50 Prozent; bei Mozilla, der Firma hinter dem Fire- fox-Browser, schon 60 Prozent; bei der Firma Automattic, der Gruppe hinter Wordpress, wäh- len alle über 400 Mitarbeiter ihre Arbeitsumge- bung selbst. Eine klassische Berufskarriere wirkt im Hubud wie ein antiker Ausgrabungsfund: historisch si- cher bedeutsam, aber aktuell nicht von Nutzen. Alle haben mehrere Jobs. Projekte, Einnahme- quellen. Schreibtische gibt es nicht, genauso we- nig Drucker oder Sitzungsräume. Morgen ist balinesisches Neujahr, Tag der Stille, der höchste hinduistische Feiertag. Die ganze In- sel wird dann heruntergefahren wie ein überdi- mensionaler Rechner. Am Flughafen dürfen keine Maschinen starten oder landen, alle Ban- komaten: außer Betrieb. 24 Stunden lang wird es verboten sein, Musik zu hören, Licht zu machen, zu arbeiten. Grundsätzlich sind die Balinesen nachsichtig mit westlichen Besuchern und deren Wünschen, schließlich sind sie die wichtigste 118 120 122 124 126 128 130 132 134 136 138 140 142 144 146 148 150 152 154 156 158 160 162 164 166 168 170 172 174 176 178 180 182 184 186 188 190 192 194 196 198 200 202 204 206 208 210 212 214 Schriftliche Kompetenz Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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