sprachreif 4, Schulbuch

92 sucht er nun, das Prinzip des Mäzenatentums in der Tech-Branche zu etablieren: Wertschöpfung ohne Renditedruck. Die Infrastruktur für moderne Nomaden Im Schatten sitzt die Social-Media-Expertin Ter- ri Witherden, eine blonde Britin, 26 Jahre alt, erst vor zwei Tagen auf der Insel gelandet. Ein biss- chen blass noch, aber gut gelaunt. Wie alle hier trägt sie Shorts und Flip³ops. Es ist die Uniform der digitalen Nomaden. Sie haben den Büroall- tag westlicher Großstädte abgestreiœ wie die Le- derschuhe, Hemden und Anzughosen, die sie in ihrem früheren Leben trugen. Das Hauptquartier der neuen Lebensform ist ein ehemaliges Hotel und heißt Roam. Wie „umher- schweifen“. Oder auch wie „immer online“. Zwei Österreicher und ein Amerikaner haben die Im- mobilie in der Kleinstadt Ubud vor drei Monaten angemietet, 24 Zimmer, zwei Stockwerke, viel Stein und Holz, der Entwurf eines Berliner Ar- chitekten. Zum Hotel hatte das Gebäude nicht getaugt, zu hohe Kosten für zu wenige Zimmer. Als temporäres Zuhause für Menschen, deren Büro in ein Notebook passt, eignet es sich bes- tens: ein Innenhof mit Pool und o²ener Gemein- schaœsküche, drei Dachterrassen, jede so groß wie ein Tennisplatz. Anfang Mai haben die Roam-Er¤nder die erste Dependance inMiami erö²net, die nächsten sol- len in Madrid, Buenos Aires und London folgen, dann an weiteren Orten. Für 1800 Dollar pro Monat bekommt man ein Bett und schnelles WLAN überall auf der Welt. Ziel ist, die Infra- struktur für ein modernes Nomadendasein zu scha²en. Coliving ist die Steigerung des Cowor- king-Trends – nicht nur ein allen o²enes, ³exib- les Büro zu teilen, sondern dort auch zu wohnen. In der o²enen Küche neben dem Pool schnip- peln die Britin Terri und ein kanadischer Gra¤k- designer Zwiebeln, Auberginen, Feta und Toma- ten, sie wollen Omeletts braten. Erst heute Morgen haben die balinesischen Angestellten die Arbeits³ächen und den Herd mit einem hindu- istischen Ritual eingeweiht: Sie haben aus Kokos- blättern ge³ochtene Blütenkörbchen mit Räu- cherstäbchen aufgestellt und einen Segen gesprochen. Die meisten Bewohner haben schon lang nicht mehr selbst gekocht. Der Anreiz schwindet, wenn man zwischen so vielen Restau- rants wählen kann, wo Müsli mit Cashewnuss- milch, Frühlingsrollen aus Papaya-Mango-Reis- blättern, Blaubeer-Smoothies, Sushi oder vegane Burger kaum etwas kosten. Der Superfood-Trend dominiert die Speisekarten, keiner missioniert, aber Fleisch ist doch eher out. „Bald wird es sowieso keine Küchen mehr ge- ben“, sagt Georgio Giorgiev, ein 27-jähriger Bulgare, der sein Geld mit E-Commerce und Anzeigendeals mit Google verdient. Einen Mo- torradhelm unter demArm lehnt er an der Trep- pe, das schulterlange Haar hinter die Ohren ge- klemmt. Nach drei Jahren auf der Insel spricht er einigermaßen Balinesisch. „Oder kennst du etwa jemanden in New York City, der noch selbst kocht? Dort gibt es kaum noch Supermärkte. Wozu auch, wenn Restaurants individualisiertes Essen anbieten?“ Während das Kokosöl in der Pfanne heiß wird, springt Terri kurz in den Pool. Eine junge Frau mit dunklen Locken und Ein- kaufstaschen in beiden Händen kommt die Trep- pe herunter und begrüßt überschwänglich einen nach dem anderen. Als sozialer Tre²punkt funk- tioniert die Küche auch hier. Der kanadische Gra¤kdesigner hebt warnend die Arme: „Willst du mich wirklich umarmen? Ich bin total ver- schwitzt!“ Nie wieder „Mahlzeit“! Ihre Pausen verbrin- gen die digitalen Nomaden nicht in der Kantine, sondern in der Hängematte – oder mit Sur®rett am Strand Digitale Nomaden können ortsungebunden le- ben, weil sie überwiegend am Computer arbei- ten. Sie folgen einer Philosophie, die ihren Ur- sprung in der Technologiebranche hat. In den Sechziger- und Siebzigerjahren hat Herbert Mar- shall Mcluhan, der damals ein³ussreichste Kom- munikationstheoretiker, das Bild der neuen No- maden gezeichnet, in den Neunzigerjahren waren Tsugio Makimoto und DavidManners die Ersten, die ein Buch über die Digital Nomads schrieben. Heute weiß keiner mehr über die digitalen No- maden als die digitalen Nomaden selbst. Ihr Le- ben ist ein Selbstversuch, und den werten sie wissenschaœlich aus. Einige haben Bücher ge- schrieben, andere verö²entlichen Texte auf me- dium.com . Eine Koryphäe in der Szene ist der 29-jährige 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62 64 66 68 70 72 74 76 78 80 82 84 86 88 90 92 94 96 98 100 102 104 106 108 110 112 114 116 Schriftliche Kompetenz Semester- check Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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