sprachreif 4, Schulbuch

89 litiker für weltfremd. Geht zwar zur Wahl, kann sich aber nur schwer entscheiden, wo sie ihr Kreuzchen machen soll. Erschreckend, wie Saskia Benter und andere jun- ge Menschen mit Abitur so ticken, denken zahl- reiche Wissenschaœler und auch führende Politi- ker. Zum Beispiel Bildungsministerin Johanna Wanka. Das große Desinteresse Studierender und ande- rer junger Menschen an Politik sei besorgniser- regend, sagte die CDU-Frau in einem Gespräch mit demUniSPIEGEL. Wanka und andere Kriti- ker stützen sich dabei in erster Linie auf den sogenannten Studierendensurvey, eine groß an- gelegte Umfrage, die das Bundesbildungsminis- terium alle zwei Jahre unter Studierenden durch- führt. Darin gaben 2015 zwei Drittel der Befragten an, sie interessierten sich wenig bis gar nicht für Politik. Dazu passt, dass immer weniger junge Menschen einer Partei beitreten. Hatte die Junge Union, also der Nachwuchs der CDU, im Jahr 2000 noch rund 135.000 Mitglieder, waren es zwölf Jahre später etwa 15.000 weniger. Die Jusos, die Ju- gendorganisation der SPD, kommen aktuell nur auf circa 70.000 Mitglieder, Ende der Siebziger- jahre waren es knapp fünfmal so viele. Auch Saskia Benter kann sich nicht vorstellen, ihre kostbare Zeit in den Dienst irgendeiner Par- tei zu stellen, allein beim Gedanken drehe sich ihr „der Magen um“, sagt sie. Und dennoch: Die junge Frau, die auf den ersten Blick genau in Wankas Raster passt, bezeichnet sich als hochpo- litisch. Allerdings versteht sie darunter etwas ganz anderes als die Bundesbildungsministerin und all die Anzugträger, die in Berlin und in den deutschen Landeshauptstädten Politik machen. Es kommt eben darauf an, wie man politi- sches Interesse de™niert Die Shell-Jugendstudie etwa, die seit den Fünfzi- gerjahren regelmäßig die jeweils 15- bis 24-Jäh- rigen analysiert, kommt nach zahlreichen quali- tativen Interviews zu einem völlig anderen Schluss als der Studierendensurvey, auf den sich Wanka und Co. berufen: Das politische Interesse der jungen Menschen sei nicht gesunken, son- dern gestiegen, behaupten die Macher der Shell-Studie. Das ist nur scheinbar ein Widerspruch zu den Ergebnissen jener Untersuchung, von der Wanka und andere ausgehen. Denn der Studierenden- survey versteht unter politischem Interesse zu- allererst die Begeisterung für die Debatten im Bundestag oder die Inhalte von Parteien − und nicht den schlichten Versuch, Gesellschaœ mit- zugestalten. Ein Ziel, das auch Saskia Benter hat. Statt über die großen Linien des Weltgeschehens zu philosophieren, möchte die junge Frau anpa- cken. Dort, wo sie den Ertrag ihres Einsatzes un- mittelbar sehen kann. „Allein kann man viel mehr bewegen als mit einem störenden Apparat im Hintergrund.“ Und etwas bewegen, das tut sie. Benter reiste für den ehrenamtlichen Verein Clowns ohne Grenzen, der Kindern in Krisenge- bieten Lebensfreude schenken will, durch Israel und die Palästinensergebiete und arbeitete ein ganzes Jahr lang für das Frauenrechtszentrum Frieda. Aktuell organisiert sie in Berlin Sprachtandems für Flüchtlinge aus Syrien, die Deutsch lernen möchten. […] Junge Menschen, das zeigten Erhebungen immer wieder, seien sehr solidarisch, allerdings vor allem bei konkreter Bedürœigkeit, sagt Bar- gel, der zum¯ema „Jugend und Politik“ forscht. Viele der Freiwilligen, die Kleider sortierten, Sprachunterricht gaben und Asylbewerber zu den Behörden begleiteten, waren tatsächlich Stu- denten. Fiona Schönbohm gehörte zu den Ers- ten, die mithalfen. Als Ende 2013 Hunderte Flüchtlinge im Mittelmeer vor Lampedusa er- tranken, beschäœigte sich die Jurastudentin in ihren Vorlesungen gerade mit dem ¯ema Völ- kerrecht. „Ich wollte unbedingt helfen“, sagt die 24-Jährige. Sie gründete daher zusammen mit einer Kommilitonin die „Refugee Law Clinic“, die Asylbewerbern kostenlose Rechtsberatung anbietet. Allein im vergangenen Jahr bildeten Schönbohm und ihre Kollegen 30 Studenten zu ehrenamtli- chen Rechtsberatern aus. Mehrmals pro Woche helfen sie nun beimAusfüllen von Anträgen und geben Tipps bei Kon³ikten mit den Ämtern. Na- türlich sei das auch eine Art von politischem En- gagement, sagt Schönbohm. Von der klassischen Politik hält auch sie lieber Abstand. Sie wolle sich eben nicht als Parteimitglied engagieren, son- dern als Mensch. Diese Parteien-Aversion sei ja schön und gut, gibt Soziologe Bargel zu bedenken. Sie berge al- 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62 64 66 68 70 72 74 76 78 80 82 84 86 88 90 92 94 96 98 100 102 104 Schriftliche Kompetenz Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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