sprachreif 4, Schulbuch

3 78 Mündliche Maturafrage: Literatur und Gesellschaft (Themenpool) Beantworten Sie die mündliche Maturafrage. Sie haben 15 Minuten Vorbereitungszeit. Thema: Engagierte Literatur Sprechen Sie über folgende Aufgabenstellung: • Fassen Sie den Essay von Josef Haslinger in eigenen Worten zusammen . • Erläutern Sie den Zusammenhang zwischen Moral und Literatur, wie er im Essay hergestellt wird. • Nehmen Sie zur Frage Stellung , ob Schriftstellerinnen und Schriftsteller sich politisch engagieren sollen. • Bewerten Sie Bestrebungen, Literatur (und Kunst) nur nach ästhetischen Kriterien zu beurteilen. 1 Die Schri¢steller und die Moral Plädoyer für eine neue engagierte Literatur Von Josef Haslinger | 14.04.2000 […] Warum wird die Wirkung von Literatur, ausgerechnet von Literatur, so hoch eingeschätzt, dass man immer wieder glaubt, sie verbieten zu müssen? Für mich gibt es dafür nur eine Erklä- rung: Was das Lesen von anderen Kulturleistun- gen unterscheidet, ist die Tatsache, dass man es allein tun muss. Gemeinsam mit anderen kann man Musik hören, in ein Museum gehen, einen Film oder ein¯eaterstück sehen. Aber während des Lesens ist man allein mit dem Text, und man ist damit jenseits jeder sozialen Kontrolle. Weil Literatur in dieser besonderen Weise wahrge- nommen wird – allein, sozial unkontrolliert, wird ihre Wirkung nach wie vor überschätzt. Li- teratur, darauf beharre ich, hat einen Ein³uss auf die intellektuelle Konstitution des Lesers, auf sei- ne Fähigkeit, die Welt wahrzunehmen und zu deuten, aber auf das konkrete soziale Verhalten der Menschen hat sie, im Gegensatz zur auf- dringlichen Bilder³ut anderer Medien, nur noch einen geringen Ein³uss. Bemerkenswert erscheint mir in diesem Zusam- menhang allerdings ein Widerspruch: Häufig verleiht unsere intellektuelle Elite dem Wort Schriœsteller einen derart emphatischen Klang, dass man glauben könnte, jemand, der eine gute Geschichte oder ein hervorragendes Gedicht schreiben kann, habe deshalb auch die Pole Posi- tion inne im Rennen um neue soziale und kultu- relle Werte. Zugleich besteht diese Elite fast aus- nahmslos auf der Feststellung, dass Literatur und Moral, Ästhetik und Ethik zwei strikt zu tren- nende Sphären seien. Der Philosoph Zygmunt Baumann nennt die Moderne ein „gigantisches Unternehmen zur Abscha²ung individueller Verantwortung“. Tat- sächlich haben zahllose Wissenschaœler in die- sem Jahrhundert bei der Entwicklung von Mas- senvernichtungswaffen moralische Bedenken kurzerhand beiseitegeschoben. Aber sie waren nicht die Einzigen, die sich von der unbezweifel- baren persönlichen Verantwortung für die eige- ne Arbeit ab- und einem weltenthobenen Ideal von Fortschritt und Machbarkeit zugewandt ha- ben. Sie folgten vielmehr einer Tendenz, die sich um die Jahrhundertwende in Literatur und Kunst immer deutlicher abzeichnete. Es waren Künstler und Schriœsteller, die als erste darauf bestanden, dass der Wert einer künstlerischen Arbeit ausschließlich nach ästhetischen Krite- rien zu beurteilen sei. […] Tatsächlich wird jeder Versuch, Literatur nach moralischen Kriterien zu beurteilen, gewöhnlich einer zutiefst antimo- dernen Haltung bezichtigt. Gewöhnlich zu Recht. Meist sind es aufgebrachte Stammtisch- hocker oder die Paladine 1 irgendwelcher Tyran- nen, die von BüchernMoral verlangen. Aber die- se Stammtischhocker haben genauso an Boden 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 Mündliche Kompetenz Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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