sprachreif 4, Schulbuch

45 WELT ONLINE: War Wunschlosigkeit das Un- glück Ihrer Mutter? Dass man ihr es ausgetrieben hat, überhaupt noch etwas zu wünschen? Handke: Ich glaube nicht einmal, dass sie wunschlos war. Im Grunde stimmt der Titel nicht, wie viele meiner Titel. Zum Beispiel „Die Angst des Tormanns beim Elfmeter“. Der Tor- mann hat gar keine Angst, er ist der, der am Schluss keine hat. Meine Mutter hatte bis zum Ende Wünsche. Sie hat sich immer noch einen anderen Mann gewünscht, einen, der „ein Kava- lier“ ist. Ich weiß gar nicht, was sie damit gemeint hat. Es ist oft ein Widerspruch zwischen Ge- schichte und Titel, der nicht Lüge sein muss. WELT ONLINE: Hat Ihre Mutter nicht auch große Literatur mit Ihnen gelesen? Handke: Ja, und sie hat dabei alles radikal auf sich bezogen, das war schön und zugleich ge- fährlich für sie. Ich habe vielleicht auch einmal so gelesen wie meine Mutter: Jedes Buch als Struktur einer möglichen Autobiogra¬e von sich selber. Mit Ka¸a wollte sie sich nicht identi¬zie- ren. Das kenne ich, kenne ich von meinen Äm- tern, sagte sie. Sie wollte nicht etwas lesen, wo sie zu sehr vorkam. Dostojewski hat wahrscheinlich am meisten ihrer Seele entsprochen, ihrer ge- quälten und doch sehr liebenden und sehr viel- fältigen Seele, die auf Erlösung aus war. Sie war erlösungsbedürftig. Obwohl sie nicht religiös war, sogar eher antireligiös gegen Ende ihres Le- bens, vielmehr antiklerikal.[…] WELT ONLINE: Der Schlusssatz von „Wunschloses Unglück“ ist inzwischen längst berühmt geworden: „Später werde ich über das alles Genaueres schreiben.“ Handke: Das ist auch ein Blödsinn. Das Wort „genau“ ist schon falsch. „Mit mehr Einzel- heiten“ wollte ich sagen. Ich habe dann später versucht, wie omas Wolfe, eine Art Epos der Familie zu erträumen: im Roman „Die Wieder- holung“. An die Mutter habe ich mich nicht mehr so recht herangewagt. WELT ONLINE: In Salzburg haben Sie mehrere Jahre gelebt, in Berlin, in und bei Paris. Gibt es in Ihrem Gefühlshaushalt so etwas wie den Begri¯ Heimat? Oder fühlen Sie sich am ehesten imRei- sen, imWandern zuhause? Handke: Einfache Fragen sind immer schwer zu beantworten. Ich weiß, dass ich eine P¥icht habe: Die ganze Welt sollte Heimat sein. Deswegen gibt es ja auch das Wort „Weltbürger“. Aber es gelingt mir nicht. Für mich sind alle Orte Flüch- tigkeiten. Irgendwann merkt man, dass man nir- gendwo wurzelt, die Orte keine Dauer haben. Außer Sprache vielleicht. Wenn ich am Schreib- tisch sitze, das mache ich wirklich nicht jeden Tag, es ist eher die Ausnahme, dann denke ich: Das ist Heimat jetzt, ja – eine ephemere Heimat, die Arbeit, Tun – „tun“ ist schöner gesagt als „ar- beiten“? QUELLE: https://www.welt.de/kultur/article5110963/Als-Peter-Handke-den-Selbstmord-der-Mutter-erlebte.html ; (abgerufen am 30.04.2017) 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62 64 66 68 70 72 74 76 78 80 82 84 86 88 90 92 94 96 98 Diskutieren Sie im Plenum, ob Sie tragische Ereignisse wie Handke in einem Buch verarbeiten würden. Was spricht dafür, was dagegen? Elfriede Jelineks Werke sind für eine sehr deutliche, grafische Sprache und teilweise verstörende und beeindruckende Szenen bekannt. Eines der bekanntesten Beispiele ist „Die Klavierspielerin“. Auch gesellschaftliche Tabuthemen spricht die Autorin häufig an. Lesen Sie unter dem Link https://kurier.at/kultur/die-klavierspielerin-von-elfriede-jelinek/714.943 eine Rezension zu dem Buch und begründen Sie im Anschluss daran, ob Sie dieses Werk lesen würden. Lesen Sie unter dem Link https://www.nobelprize.org/nobel_prizes/literature/laureates/2004/ jelinek-lecture-g.html die Rede Elfriede Jelineks zum Empfang des Nobelpreises. Wählen Sie vier bis fünf Sätze aus, die Sie persönlich ansprechen und kommentieren Sie diese. A23 C A24 Ó w2uf2b A25 Ó 8bj7tr Literarische Bildung Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

RkJQdWJsaXNoZXIy ODE3MDE=