sprachreif 4, Schulbuch

108 Seitenweise Text abschreiben − das ist keine Intertextualität Von Brigitte Preissler | 18.03.2010 Julia Kristeva: Das Problem ist, dass das Recht zu zitieren, und auch die Urheberrechte an einer kulturellen Schöpfung oder ei- nem Kunstwerk, aufgrund ver- schiedener Tendenzen des Markts und des Internets heute nicht mehr gewährleistet sind. Es ist sehr leicht geworden, ab- zuschreiben oder etwas nachzu- machen und die Komposition dann als eigene auszugeben - ohne besondere Eingri¬e, durch bloßes Copy & Paste. Das ist meiner Meinung nach einer der schwächsten Aspekte moderner Kultur, und es bedeutet für un- seren Begriff von Kreativität eine enorme Krise. Die Welt: In der jüngsten, vier- ten Ausgabe von „Axolotl Ro- adkill“ hat Hegemanns Verlag, Ullstein, eine Liste ihrer Quel- len verö¬entlicht, ergänzt durch die folgende Bemerkung: „Die- ser Roman folgt in Passagen dem ästhetischen Prinzip der Intertextualität und kann daher weitere Zitate enthalten.“ Kommt die Idee der Intertextu- alität nicht in dem Moment an ihre Grenzen, wo sie als Recht- fertigung für die Missachtung geistigen Eigentums herhalten muss? Kristeva: Ich kenne diesen spe- ziellen Roman nicht. Es kommt darauf an, wie die entnomme- nen Teile benutzt werden, und ob sie in etwas Originelles, Spe- zielles integriert werden, das über bloßes Copy & Paste hin- ausgeht. Ich kann mir kein Ur- teil über etwas bilden, das ich nicht kenne. Die Welt: Helene Hegemann hat jedenfalls zugegeben, dass sie abgeschrieben hat, und erst im Nachhinein ihre Quellen of- fenbart. Kristeva: Wenn die Passagen sehr lang sind und nicht in ei- ner besonderen, persönlichen Art und Weise eingebaut wur- den, ist es mechanischer Dieb- stahl, bloßes Copy & Paste. Aber das ist schwer zu sagen. Es hängt von der Quantität ab. Wenn jemand mehr als einen Satz oder ein Thema aufgreift und seitenweise Text entnimmt, ohne zuzugeben, dass es nicht der eigene ist, dann ist das keine Intertextualität. DieWelt: Intertextualität ist seit vielen Jahren ein gängiger Be- gri¬ in den akademischen De- batten. Wie der Fall Hegemann zeigt, scheint im Bereich der journalistischen Kritik und des Feuilletons dagegen eher die Idee geistigen Eigentums zu do- minieren. Wie beurteilen Sie diese Diskrepanz? Kristeva: […] Was ist authen- tisch? Wir haben in der moder- nen Schri„kultur einerseits vie- le Ein±üsse durch das Internet, durch Mail, Blogs, Facebook und so weiter, die die Unver- sehrtheit geistigen Eigentums in Frage stellen können. Anderer- seits müssen jedem kreativen Menschen die Möglichkeit und das Recht vorbehalten bleiben, einen eigenen, einen besonde- ren Stil zu haben. Wie finden wir wieder zu einem harmoni- schen Gleichgewicht zwischen der Vorstellung „alles ist mög- lich“ und einer kreativen Per- sönlichkeit, die ihren Frieden ²ndet und sagen kann: Das bin ich? Dieses Gleichgewicht muss erst wieder hergestellt werden. QUELLE: https://www.welt.de/welt_print/kultur/article6825629/Seitenweise-Text-abschreiben-das-ist-keine-Intertextualitaet.html ; (abgerufen am 22.09.2017) 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62 64 66 68 70 72 74 76 78 80 82 84 86 88 90 92 94 Intertextualität? Lesen Sie den Ausschnitt aus dem Interview mit Julia Kristeva. Können Sie aufgrund der Aussagen den Unterschied zwischen Intertextualität und Plagiat erklären? A6 Lesen Sie nun den folgenden Ausschnitt aus poeticon. Ergänzen Sie Ihre Überlegungen aus A6. Sie können auch den gesamten Eintrag unter http://www.poeticon.net/intertextualitat/ lesen. A7 Ó Text- kompetenz 4 Nur zu Prüfzwecken – E igentum des Verlags öbv

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