sprachreif 4, Schulbuch

103 einen Gegenstand durch die Luft sausen und denke mir: Woher das wohl kommt. Raoul ruœ „Nein!“ und rudert sinnlos mit den Armen durch die Luœ, Gundula Jesovsky sagt gar nichts, sie sieht aus, als hätte sie aufgehört zu atmen. Wir beugen uns alle drei über die Brüstung und se- hen demHerrn Jesus nach, der einen Salto rück- wärts vollführt, beinahe elegant, und ich muss mich beherrschen, um nicht zu klatschen. Dann ein dumpfer Ton, ein AuÈlatschen, und Raoul sagt: „Haben Sie das gehört? Er ist in der Babybadewanne gelandet, er ist gerettet.“ Raoul wiederholt das Wort wie ein Mantra: „Gerettet, gerettet, gerettet.“ Bei Gundula Jesovsky scheint es nicht anzukom- men, immer noch hält sie sich an der Brüstung fest, die Knöchel ihrer Finger sind weiß vor An- strengung. Ich sehe Raoul an, und er sieht mich an. Ich möchte so gerne sagen: Es ist ein Verse- hen, wir sollten nicht hier sein, das ist kein Spiel. Raoul hält die Frau an ihrem rechten Oberarm, ich halte sie an ihrem Linken. Wir sprechen zu ihr in je ein Ohr. „Wir holen ihn herauf, nicht wahr, Raoul? Wir bringen ihn zurück. Er wird feucht sein, aber ganz. Bestimmt ist er noch ganz.“ „Gerettet“, sagt Raoul. „Gerettet.“ „Es reicht“, sage ich zu ihm, über den Kopf der alten Frau hinweg. Gundula Jesovsky lässt sich von uns zurück ins Wohnzimmer führen. Ich zähle mit, es sind zwölf kleine Schritte. „Wir können nichts dafür“, sagt Raoul, als wir aus der Wohnung hasten. „Wir können wirklich nichts dafür.“ Wir steigen in den Liœ. Ich drücke den „Türen schließen“-Knopf und frage Raoul, in welchem Stock der blinde Mann denn nun wohnt. Im zwölœen? Oder hat sie gesagt: dreizehn? „Keine Ahnung“, sagt Raoul. Wir stehen eine Weile da, ohne uns zu rühren. „Und jetzt?“ „Was, und jetzt?“ „Das Kreuz“, sage ich. „Das ist ja wohl klar. Wir ¤nden es und tragen es zurück.“ Raoul lehnt sich an die polierte Aufzugwand und schließt für einen Moment die Augen. Er sieht beinahe unschuldig aus. Dann beugt er sich nach vorn und drückt auf „E“. Der Aufzug setzt sich ruckelnd in Bewegung. Ich beobachte den Countdown der Stockwerke auf demDisplay. Wahrscheinlich sucht man sich das ganze Leben lang seine Strafen selbst aus, denke ich. Freiwillig. Und wenn du es merkst, ist es zu spät. Wenn du anfängst, dich zu wehren, ist es immer schon zu spät. QUELLE: http://fm4v3.orf.at/stories/1688258/ ; (abgerufen am 21.08.2017) 250 252 254 256 258 260 262 264 266 268 270 272 274 276 278 280 282 284 286 288 290 292 294 296 298 300 302 304 Schriftliche Kompetenz Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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