sprachreif 4, Schulbuch

102 schen den Fingern dreht. Er verträgt keinen Al- kohol. Als wir das letzte Mal Wo ich niemals ster- ben möchte spielten, sagte er: „In der dunkelsten Ecke der Brauerei, eingeklemmt zwischen zwei Bierfässern.“ „Dann kommen Sie also von der Universität“, sagt die Frau. „Darf ich Ihr Bad benützen?“, fragt Raoul und ich denke: Großartig, immer wenn es eng wird, macht er sich aus dem Staub. „Wir untersuchen die Auswirkungen des Woh- nungsniveaus auf die Lebensqualität“, sage ich, ohne nachzudenken. Ich bin mittlerweile davon überzeugt, dass wir uns geirrt haben, und dass es sich hier sehr wohl gut sterben ließe, warum auch nicht. Mit dem Blick auf den Donauturm, auf das Allgemeine Krankenhaus, auf das Riesenrad, das in der Nachmittagssonne ³irrt. Die Frau streicht ihren Rock glatt. Sie scheint zu- frieden mit meiner Antwort. Die Klospülung rauscht, und dann steht Raoul schon wieder im Zimmer. Er muss den Kopf einziehen, um nicht an die Kassettendecke zu stoßen. „Mit dem Hochhaus ist das so eine Sache“, sagt die Frau. „Anonym, wissen Sie. Dreizehn Nach- barn in fünfzehn Jahren. Wie soll man sich da an wen gewöhnen?“ Ich frage mich, ob man sich überhaupt jemals an irgendwen gewöhnen kann. Oder ob es nur die gemeinsamen Rituale sind. Bevor wir einschla- fen, wärmt Raoul meine Füße, indem er mit sei- nen Waden meine Fußsohlen reibt. Wir haben da eine spezielle Technik entwickelt. Dafür neh- me ich einiges in Kauf. Ich schaue der Frau ins Gesicht und erkenne plötzlich, wie sie ausgesehen haben muss, als sie jung war. Ich suche die Wand nach Fotos ab: El- tern, Kinder, Männer. Nichts. Vielleicht hat sie ein Kind bekommen, und es ist gestorben, viel- leicht hat sie einen Mann gehabt, und er ist ge- storben, vielleicht hat sie immer nur sich gehabt und ist alt geworden, ohne es zu merken. „Seit einigen Jahren wohnt ein Blinder imHaus“, sagt die Frau. „Sein Hund kann mit der Schnauze den Aufzug bedienen und hat sich noch kein ein- ziges Mal geirrt. Er hat mich sogar einmal ausge- bessert, als ich mich verdrückt hatte.“ Ich male ein Galgenmännchen in meinen Block. Galgen, Kopf, Rumpf, Arm, Arm, die Hände sind kleine Kreise. Seit kurzem zähle sie ihre Schritte, sagt die Frau. Sie müsse mit ihren Kräœen haushalten. Sieben Schritte vom großen Tisch zur Kredenz, zwei- undzwanzig Schritte in die Küche. Sie steht auf und sagt: „Acht Schritte vom Fauteuil zum Herrn“, und gerade, als ich fragen will: „Zu wel- chem Herrn?“, zeigt sie auf ein Kruzi¤x, an dem ein erstaunlich wohlgenährter Christus befestigt ist. Pausbacken, ein Rettungsring um die Mitte, feste Schenkel. Er sei gerne draußen an der frischen Luœ, sagt sie. Wegen ihm habe sie sich für den siebzehnten Stock entschieden. „Damit er näher am – Sie wissen schon.“ Sie deutet mit demZeige¤nger an die Decke. Ich wechsle einen Blick mit Raoul. Jetzt hat er seine Story, daran wird er sich festbeißen, um sie später in Ruhe auszuweiden. Im Park Rothneu- siedl wohnen lauter Irre, wird er sagen, völlig Verrückte. Blindenhunde, die mit Aufzügen fah- ren, alte Jungfern, die ihre Kruzi¤xe auf demBal- kon auslüœen. „Und? Gefällt es ihm hier?“, fragt Raoul. „An klaren Tagen sieht man bis zum Kahlen- berg“, sagt die Frau. „Das können Sie ruhig schreiben.“ Sie deutet auf mich. „Los, schreiben Sie das auf! Kahlenberg.“ Ich zeichne die Beine des Gehängten, seine Schu- he und den Querbalken des Galgens. Die alte Frau löst das Kruzi¤x vom Haken, bei- läu¤g, so wie man eine Jacke von einemGardero- behaken nimmt und ö²net die Schiebetür zum Balkon. „Na los“, sagt sie zu uns, kommen Sie!“ Der Balkon ist aus Beton und so groß wie zwei Doppelbetten. Am Horizont die Silhouette der Stadt, scharfe Ränder, in den Himmel gemeißelt. Kein Laut, so als stünden wir auf einem Berggipfel. Gundula Jesovsky nennt die Nachbarn, indem sie mit dem Kruzifix auf die Balkone deutet: „Brunner, Haberl, Wasmaier, Konrad, das ist der Blinde. Sehen Sie die Babybadewanne? Darin ba- det er seinen Hund.“ Als sie „Hund“ sagt, geschieht es. Eine winzige Unachtsamkeit, eine Fehlschaltung der Synap- sen, eine vorübergehende Muskelschwäche, je- denfalls ö²net sie ihre Hand, ich sehe plötzlich 152 154 156 158 160 162 164 166 168 170 172 174 176 178 180 182 184 186 188 190 192 194 196 198 200 202 204 206 208 210 212 214 216 218 220 222 224 226 228 230 232 234 236 238 240 242 244 246 248 Schriftliche Kompetenz Semester- check Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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