sprachreif 4, Schulbuch

101 schen Pelargonien und Kugelgrill. Das gelinge nicht allen, sagt Raoul. Ich weiß nicht, ob ich ihm das glauben soll, aber ich tue es. Schließlich werden wir im Juni heira- ten, und Ehe bedeutet Vertrauen, sagte der Pries- ter im Ehevorbereitungskurs. Wobei er „Vertrauen“ aussprach wie „verdauen“, und ich dachte: Ja, eine Menge zu verdauen, auch schon vor der Hochzeit. Wir müssen zweimal die U-Bahn-Linie wech- seln, dann stehen wir vor der Pyramide wie zwei Touristen, die sich verlaufen haben. „Und jetzt?“ „Was, und jetzt?“ „Na was jetzt?“ Rund um die Pyramide erstreckt sich die Buli- miezone der Stadt. Alles sieht aus wie zerkaut und ausgespuckt. Kein Park weit und breit, nicht einmal ein Grünstreifen. Ich lege meinen Kopf in den Nacken und schaue hinauf zu den Balkonen. Schla²e Kletterp³anzen, die sich am Sichtbeton entlangranken, gelb-weiß gestreiœe Markisen. Dazwischen ein Eckchen Himmel, eingeklemmt zwischen der Pyramide und dem Docht des Fernheizkraœwerkes. „Los, du läutest an.“ „Nein, du läutest, ich rede.“ Ich entscheide mich für Gundula Jesovsky. Guter Sound, ein Name im Dreivierteltakt. „Ja.“ Eine dürre Stimme. Raoul schiebt sich vor die Gegensprechanlage. „Scheinmeier“, sagt er. „Grüß Gott.“ Es knackt und rauscht in der Leitung. „Von der Bibelrunde?“ „Nein, wir – also wir kommen von der Uni Wien. Dekanat für Hochhauspsychologie.“ Hochhauspsychologie! Der Mann hat Nerven. Ein Summen, Raoul drückt gegen die Tür. Im Treppenhaus ist es kalt. Auf der Treppe zumKel- ler: eine Kinderwagenprozession. Der Aufzug reißt sein Maul auf. Siebzehnter Stock. Ich weiß nicht, was wir hier verloren ha- ben. Es riecht nach Hund. Ich beobachte die schattige Mulde zwischen Ra- ouls Nase und seinem Mund. An der Ecke des Schneidezahns ist eine Einkerbung, die mit der Zeit dunkler geworden ist. Der ganze Mann dun- kelt nach, er bekommt Flecken, Kerben, Risse. Von einer Fieberblase ist eine kleine rosa Narbe übrig geblieben. Immer wieder hatte er an der Wunde gekratzt, die frische Haut mit den Finger- nägeln weggeschabt. Ich frage mich, wie er aus- sehen wird, wenn er fertiggemeißelt ist. „Herr Dekan“, sage ich. „Lass mich nur machen“, sagt er und grinst. Er kontrolliert seinen Seitenscheitel im Spiegel. Gundula Jesovsky steht an der Tür. Sie ist klein und schrumpelig, wie ein Kleidungsstück, das mit zu hoher Drehzahl geschleudert wurde. In ihren Augen spiegelt sich die Ehrfurcht vor dem Akademischen. Sie bittet uns in einen dunklen Flur, dann weiter in ein dunkles Wohnzimmer. Kassettendecken, Biedermeier-Mobiliar, eine Pendeluhr. Es riecht nach nasser Wolle. Diese Frau gehört in eine Alt- bauwohnung im Zentrum, denke ich, mit Flü- geltüren und hohen Decken, damit die Erinne- rungen gut zirkulieren können. Sie bietet uns Zirbenschnaps an, und ich sage: „Bitte keine Umstände“, aber sie scheint sich über den Besuch zu freuen, und ich bereue be- reits, dass wir hergefahren sind und Erwartun- gen wecken, die wir niemals erfüllen können. „Ich gehe nicht oœ hinaus“, sagt sie. „Denn ich muss ja mit dem Liœ hinunter und danach wie- der hinauf, dazwischen kann viel passieren. Wenn man jung ist, denkt man nicht daran. Aber dann kommt das Alter, und man hat Angst, dass der Liœ stecken bleibt.“ Früher sei sie gerne ins ¯eater gegangen, sagt sie. Nach Schönbrunn und in die Oper. Vor al- lem in die Oper. „Und eines Tages“, sagt sie, „habe ich die Spiegel gesehen und war alt.“ Ich suche mein Spiegelbild im Glas, um den Zu- stand meiner Wangen zu kontrollieren. Das Al- ter beginnt an den Wangen, sagt man, dann me- tastasiert es in andere Körperteile. Ganz langsam – eine grausame Finte der Natur, damit man sich nicht wehren kann. Wenn man sich zu wehren beginnt, ist es immer schon zu spät. Zunächst er- schla¹ die Haut, dann verlieren die Konturen des Kinns an Schärfe, der Hals wird breiter und wulstiger, bis er so aussieht, als sei er aus mehre- ren Ringen zusammengeschraubt. Ich habe so eine Entwicklung schon mit angesehen und fürchte mich davor, deshalb trinke ich schnell aus. Der Schnaps schmeckt nach dunklem, feuchtemWald. Ich blinzle hinüber zu Raoul, der sein Glas zwi- 52 54 56 58 60 62 64 66 68 70 72 74 76 78 80 82 84 86 88 90 92 94 96 98 100 102 104 106 108 110 112 114 116 118 120 122 124 126 128 130 132 134 136 138 140 142 144 146 148 150 Schriftliche Kompetenz Nur zu Prüfzwec en – Eigentum des Verlags öbv

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