sprachreif 4, Schulbuch

100 Auf dem Weg zur Matura Verfassen Sie eine Textinterpretation . Situation : Im Rahmen eines fächerübergreifenden Projektes sollen Sie Ihre Kompetenz im Umgang mit Sprache unter Beweis stellen. Lesen Sie die Kurzgeschichte Herr Jesus springt , mit der die Autorin Isabella Straub den FM4-Kurzge- schichten-Wettbewerb Wortlaut im Jahr 2011 gewonnen hat (das Überthema lautete „Zirkus“). Schreiben Sie nun die Textinterpretation und bearbeiten Sie dabei folgende Arbeitsaufträge : • Fassen Sie die Textgrundlage zusammen. • Erschließen Sie sprachliche und erzählerische Mittel, die für eine Interpretation der Kurz- geschichte wichtig sind. • Deuten Sie die Gedanken und das Verhalten sowohl von Raoul als auch von seiner Verlobten und Frau Jesovsky. Schreiben Sie zwischen 540 und 660 Wörter. Markieren Sie Absätze mittels Leerzeilen. 2 Textbeilage 1 Isabella Straub: Herr Jesus springt Wenn Raoul gut gelaunt ist, spielen wir Wo ich niemals leben möchte . Wenn er schlecht gelaunt ist, aber immer noch gut genug, um sich auÃei- tern zu lassen, spielen wir Wo ich niemals sterben möchte . Wenn ich merke, dass die Stimmung kippt, lasse ich ihn gewinnen. Ich beiße mir auf die Unterlippe und tue so, als würde ich nachdenken, obwohl ich tausend Orte nennen könnte, an denen ich nie und nimmer sterben möchte. Wenn es so weit ist, reibt Raoul sich die Hände. Manchmal kneiœ er mich auch in die Wange, das kann ich nicht leiden. „Gewonnen.“ „Scheint so.“ „Feiern wir?“ Er ö²net den Gürtel seiner Hose, lässt mich da- bei nicht aus den Augen. Seine Beine sind weiß und dünn wie zwei Leuchtsto²röhren. Während ich meine Mundhöhle mit Tee vorwärme, erin- nere ich mich an meine Klavierlehrerin. In ihrer Wohnung möchte ich nie und nimmer sterben, das steht fest. Sie hieß Frau Weinzierl und war sehr gläubig. Auf ihrem Klavier lagen drei Ro- senkränze. An der Wand hing ein in einen Gold- rahmen gefasstes Foto, das sie mit dem Papst zeigte. Sie kniet vor dem Papst so wie ich vor Ra- oul. Bereit, beinahe alles zu tun. Der Papst ist längst tot und selig gesprochen. Raoul ist leben- dig und warm. Manchmal kni² uns Frau Weinzierl in die Wan- ge, aber nur, wenn sie gut gelaunt war. Wenn sie schlecht gelaunt war, notierte sie jeden unserer Fehler in einem Schulheœ. G statt Gis, Domi- nantseptakkord misslungen, Pause nicht einge- halten. Wir mussten uns unsere Strafe selbst aus- denken. Um uns gegenseitig zu versichern, wie gut es uns geht, fahren Raoul und ich in unregelmäßigen Abständen an einen Ort, der sowohl in der Wer- tung Wo ich niemals leben möchte als auch in der Wertung Wo ich niemals sterben möchte vorn da- bei ist. Diesmal ist es der Park Rothneusiedl, ein Wohnturm an der Wiener Peripherie. Er sieht aus wie eine Pyramide, an die man Balkone drangeschraubt hat. Rothneusiedl ist ein belieb- ter Hot Spot für Selbstmörder, sagt Raoul. Vor allemwegen seiner Schikane. Da sich das Gebäu- de nach unten hin verbreitet, müssen die Lebens- müden einen ordentlichen Anlauf nehmen, um nicht auf einem der Balkone aufzuschlagen, zwi- 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 Schriftliche Kompetenz Semester- check Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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