sprachreif 3, Schulbuch

89 Karl Immermann: Münchhausen − Neuntes Kapitel Verständnisse und Mißverständnisse, Sehnsucht, Orden, Gesinnungen und Ehrenstellen; Görres und Strauß 1 ; die Pücelle d’Orléans 2 , Zeichen, Wunder und neue Geheimnisse In den nächsten Tagen nach der Ankunft des Fremden ging das schwärmende Entzücken der Schloßbewohner über den wunderbaren Mann in den ruhigeren, aber um so festeren Glauben über, daß in ihm der vom Verhängnis bestimmte Heiland ihrer Wünsche erschienen sei. Denn der alte Baron merkte schon am ersten Abende, an welchem er Münchhausens Unterhaltung genoß, daß mit den Kenntnissen, Erfahrungen, Schick- salen, Blicken, Ideen und Hypothesen seines Gastes niemand zwischen Himmel und Erde sich zu messen vermöge. Er war, seinen Erzäh- lungen zufolge, fast in allen bekannten und un- bekannten Gegenden der Erde gewesen, hatte sämtliche Künste und Wissenschaften getrieben, zu Weinsberg 3 Blicke in das Geisterreich getan, war durch alle Lagen des Lebens abwechselnd als Küchenjunge, Krieger, Staatsmann, Naturfor- scher und Maschinenbauer gegangen. Selbst in außermenschliche Regionen war sein Lebenslos geworfen worden; er ließ nach den ersten Stun- den der Bekanntschaft merken, daß er einen Teil seiner Tage unter dem Vieh zugebracht habe. Der alte Baron hatte hauptsächlich die Abendstunden, in welchen die Gesellschaft sich im Wohnzimmer zu versammeln pflegte, und bei dem Scheine einer Kerze auf den hölzernen Schemeln um den kiefernen Tisch saß, sich zu Mitteilungen erbeten. Für die Gartenpromena- den war von ihm ein noch strengeres Silentium 4 festgesetzt worden, als früherhin, „denn“, sagte er, „man muß den Tag zum Nachdenken frei be- halten, darüber, was Münchhausen am Abend erzählt; des Stoffes wird sonst zuviel, und wir werden alle drehend, wie die Schafe, von der Weisheit dieses Mannes.“ – Aus dem Journalzir- kel trat er nun wieder aus; in seinem Gaste besaß er jetzt mehr, als ihm eine Zeitschrift bieten konnte, der Geist aller Journale erschien in Münchhausen verkörpert. Immer ging der wun- derbare Mann bei seinen Erzählungen von etwas Bekanntem und Verbürgtem 5 aus, erhob sich aber von dieser Grundfläche zu den kühnsten und abenteuerlichsten Schwüngen, so daß man wohl sagen konnte, er stelle recht eigentlich in seiner Person den gewaltigen Fortschritt unserer Zeit dar. Freilich blieb die Empfindung des Schloßherrn nicht ganz ohne eine hin und wieder hervortre- tende entgegengesetzte Beimischung. Münch- hausen redete auch viel von Literatur und Poe- sie, und konnte bei solchen Gesprächen leicht satirisch werden. Der alte Baron hatte aber an diesen Gegenständen kein Interesse, und haßte die Satire 6 ; weshalb er denn auch derartigen Konversationen sich nur mit einem gewissen Unbehagen hingab. Wirklich verletzt aber fühlte er sich, wenn Münchhausen, wie er nicht selten tat, seine Meinung äußerte, alle Menschen seien gleich geboren, und nur der Wahn, der aber für immer ab und tot sei, habe den einen durch sei- ne Geburt zu Vorzügen bestimmt ausgeben kön- nen, die nicht auch das Eigentum aller seiner Mitbrüder gewesen seien. Mit dem Fräulein gestaltete sich das Verhältnis des Gastes bald gründlich und tief in das zarte Verstehen ohne Worte aus, welches unsere sinni- gen und hochstehenden Frauen so sehr lieben. Wenn sie ihm zuflüsterte, ein unaussprechliches Etwas durchwoge sie, so versicherte er, daß er sie vollkommen begreife; und konnte sie für den Drang ihrer Empfindungen nur Vordersätze ohne Nachsätze finden, so ließ er sie ahnen, daß letztere in seiner verschwiegenen Seele ausge- sprochen ruhten. Daneben erquickten sie die glänzenden Schilderungen, welche er von frem- den Gegenden gab, im Grunde ihres Herzens. […] 1 Johann Josef Görres (Hochschul- und Gymnasiallehrer, Philosoph) und Johann Strauß (Komponist) 2 Referenz auf Jeanne d’Arc (französische Nationalheldin) 3 Kleine Stadt in der Nähe von Heilbronn, Deutschland, welche Münchhausen angeblich auch besuchte 4 Schweigen, Ruhephase 5 Vertrautem 6 Kritik an oder Spott über Menschen, Orte oder Dinge mithilfe von Ironie oder Übertreibung QUELLE: http://gutenberg.spiegel.de/buch/-789/21 ; (abgerufen am 22.04.2016, in Original-Rechtschreibung) Verfassen Sie nach kurzer Recherche eine Kurzbiografie über den Baron von Münchhausen in der Länge von 200 Wörtern. A30  Ó 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62 64 66 68 70 72 74 76 78 80 82 Literarische Bildung Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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