sprachreif 3, Schulbuch

80 Georg Büchner: Der Hessische Landbote Erste Botschaft Darmstadt, im Juli 1834 Vorbericht Dieses Blatt soll dem hessischen Lande die Wahrheit melden, aber wer die Wahrheit sagt, wird ge- henkt, ja sogar der, welcher die Wahrheit liest, wird durch meineidige Richter vielleicht gestraft. Da- rum haben die, welchen dies Blatt zukommt, folgendes zu beobachten: 1. Sie müssen das Blatt sorgfältig außerhalb ihres Hauses vor der Polizei verwahren; 2. sie dürfen es nur an treue Freunde mitteilen; 3. denen, welchen sie nicht trauen, wie sich selbst, dürfen sie es nur heimlich hinterlegen; 4. würde das Blatt dennoch bei Einem gefunden, der es gelesen hat, so muß er gestehen, daß er es eben dem Kreisrat habe bringen wollen; 5. wer das Blatt nicht gelesen hat, wenn man es bei ihm findet, der ist natürlich ohne Schuld. Friede den Hütten! Krieg den Palästen! Im Jahr 1834 sieht es aus, als würde die Bibel Lü- gen gestraft. Es sieht aus, als hätte Gott die Bau- ern und Handwerker am 5ten Tage, und die Fürsten und Vornehmen am 6ten gemacht, und als hätte der Herr zu diesen gesagt: Herrschet über alles Getier, das auf Erden kriecht, und hät- te die Bauern und Bürger zum Gewürm gezählt. Das Leben der Vornehmen ist ein langer Sonn- tag, sie wohnen in schönen Häusern, sie tragen zierliche Kleider, sie haben feiste Gesichter und reden eine eigne Sprache; das Volk aber liegt vor ihnen wie Dünger auf dem Acker. Der Bauer geht hinter dem Pflug und treibt ihn mit den Ochsen am Pflug, er nimmt das Korn und läßt ihm die Stoppeln. Das Leben des Bauern ist ein langer Werktag; Fremde verzehren seine Äcker vor seinen Augen, sein Leib ist eine Schwiele, sein Schweiß ist das Salz auf demTische des Vor- nehmen. Im Großherzogtum Hessen sind 718,373 Ein- wohner, die geben an den Staat jährlich an 6,363,364 Gulden,[…] Dies Geld ist der Blutzehnte, der von dem Leib des Volkes genommen wird. An 700,000 Men- schen schwitzen, stöhnen und hungern dafür. Im Namen des Staates wird es erpreßt, die Presser berufen sich auf die Regierung und die Regie- rung sagt, das sei nötig die Ordnung im Staat zu erhalten. was ist denn nun das für gewaltiges Ding: der Staat? Wohnt eine Anzahl Menschen in einem Land und es sind Verordnungen oder Gesetze vorhanden, nach denen jeder sich rich- ten muß, so sagt man, sie bilden einen Staat. Der Staat also sind Alle ; die Ordner im Staat sind die Gesetze, durch welche das Wohl Aller gesichert wird, und die aus dem Wohl Aller hervor gehen sollen. – Seht nun, was man in demGroßherzog- tum aus dem Staat gemacht hat; seht was es heißt: die Ordnung im Staate erhalten! 700,000 Men- schen bezahlen dafür 6 Millionen, d.h. sie wer- den zu Ackergäulen und Pflugstieren gemacht, damit sie in Ordnung leben. In Ordnung leben heißt hungern und geschunden werden. Wer sind denn die, welche diese Ordnung ge- macht haben, und die wachen, diese Ordnung zu erhalten? Das ist die Großherzogliche Regierung. Die Regierung wird gebildet von dem Großher- zog und seinen obersten Beamten. Die anderen Beamten sind Männer, die von der Regierung berufen werden, um jene Ordnung in kraft zu erhalten. Ihre Anzahl ist Legion: Staatsräte und Regierungsräte, Landräte und Kreisräte, Geistli- che Räte und Schulräte, Finanzräte und Forsträte u.s.w. mit allem ihremHeer von Sekretären u.s.w. Das Volk ist ihre Herde, sie sind seine Hirten, Melker und Schinder; sie haben die Häute der Bauern an, der Raub der Armen ist in ihrem Hause; die Tränen der Witwen und Waisen sind das Schmalz auf ihren Gesichtern; sie herrschen frei und ermahnen das Volk zur Knechtschaft. Ihnen gebt ihr 6,000,000 fl. Abgaben; sie haben dafür die Mühe, euch zu regieren; d.h. sich von euch füttern zu lassen und euch eure Menschen- und Bürgerrechte zu rauben. Sehet was die Ernte eures Schweißes ist. Für das Ministerium des Innern und der Gerech- tigkeitspflege werden bezahlt 1,110,607 Gulden. 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62 64 66 68 70 72 74 76 Text- kompetenz 3  Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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