sprachreif 3, Schulbuch

76 sind keine Flecken, nur Wunden. Ach! und nur Wunden, welche die Hand der Freunde, nicht die der Feinde geschlagen hat! Die Nacht ist stumm. Nur draußen klatscht der Regen auf die Dächer und ächzet wehmütig der Herbstwind. Das arme Krankenzimmer ist in diesem Augen- blick fast wohllustig heimlich, und ich sitze schmerzlos im großen Sessel. Da tritt dein holdes Bild herein, ohne daß sich die Türklinke bewegt, und du lagerst dich auf das Kissen zu meinen Füßen. Lege dein schönes Haupt auf meine Kniee und horche, ohne aufzu- blicken. Ich will dir das Märchen meines Lebens erzählen. […] Aus den frühesten Anfängen erklären sich die spätesten Erscheinungen. Es ist gewiß bedeut- sam, daß mir bereits in meinem dreizehnten Lebensjahr alle Systeme der freien Denker vor- getragen wurden und zwar durch einen ehrwür- digen Geistlichen, der seine sazerdotalen Amts- pflichten nicht im geringsten vernachlässigte, so daß ich hier frühe sah, wie ohne Heuchelei Reli- gion und Zweifel ruhig nebeneinandergingen, woraus nicht bloß in mir der Unglauben, son- dern auch die toleranteste Gleichgültigkeit ent- stand. Ort und Zeit sind auch wichtige Momente: ich bin geboren zu Ende des skeptischen achtzehn- ten Jahrhunderts und in einer Stadt, wo zur Zeit meiner Kindheit nicht bloß die Franzosen son- dern auch der französische Geist herrschte. Die Franzosen, die ich kennenlernte, machten mich, ich muß es gestehen, mit Büchern bekannt die sehr unsauber und mir ein Vorurteil gegen die ganze französische Literatur einflößten. Ich habe sie auch später nie so sehr geliebt, wie sie es verdient, und am ungerechtesten blieb ich gegen die französische Poesie, die mir von Ju- gend an fatal war. Daran ist wohl zunächst der vermaledeite Abbé Daunoi schuld, der im Lyzeum zu Düsseldorf die französische Sprache dozierte und mich durchaus zwingen wollte französische Verse zu machen. Wenig fehlte, und er hätte mir nicht bloß die französische, sondern die Poesie über- haupt verleidet.[…] So denk ich jetzt und so fühlt ich schon als Kna- be, und man kann sich leicht vorstellen, daß es zwischen mir und der alten braunen Perücke zu offnen Feindseligkeiten kommen mußte, als ich ihm erklärte, wie es mir rein unmöglich sei, französische Verse zu machen. Er sprach mir al- len Sinn für Poesie ab und nannte mich einen Barbaren des Teutoburger Waldes. Ich denke noch mit Entsetzen daran, daß ich aus der Chrestomathie des Professors die Anrede des Kaiphas an den Sanhedrin aus den Hexame- tern der Klopstockschen „Messiade“ in franzö- sische Alexandriner übersetzen sollte! Es war ein Raffinement von Grausamkeit, die alle Passions- qualen des Messias selbst übersteigt, und die selbst dieser nicht ruhig erduldet hätte. Gott ver- zeih, ich verwünschte die Welt und die fremden Unterdrücker, die uns ihre Metrik aufbürden wollten, und ich war nahe dran ein Franzosen- fresser zu werden. Ich hätte für Frankreich sterben können, aber französische Verse machen – nimmermehr! Durch den Rektor und meine Mutter wurde der Zwist beigelegt. Letztere war überhaupt nicht damit zufrieden, daß ich Verse machen lernte, und seien es auch nur französische. Sie hatte nämlich damals die größte Angst, daß ich ein Dichter werden möchte; das wäre das Schlimms- te, sagte sie immer, was mir passieren könne. QUELLE: http://gutenberg.spiegel.de/buch/memoiren-369/1 ; (abgerufen am 24.05.2016, in Original-Rechtschreibung) Markieren Sie Begriffe, die Sie nicht verstehen, und erstellen Sie daraus gemeinsam mit Ihrer Partnerin oder Ihrem Partner eine Liste. Klären Sie die Bedeutung der unbekannten Wörter mithilfe des Internets oder des Wörterbuches. Beantworten Sie nach der Lektüre des Textauszuges schriftlich in wenigen Sätzen folgende Fragen: •• Welche Rückschlüsse können Sie von der Lektüre auf Heines Charakter ziehen? •• Wie würden Sie den Stil des Textes beschreiben? •• Erfüllt der Text Ihre Erwartungen an eine Autobiografie? A13  B A14  22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62 64 66 68 70 72 74 76 78 80 82 84 86 88 90 92 94 96 Text- kompetenz 3  N ur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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