sprachreif 3, Schulbuch

58 Einige ihrer Follower reagierten verständnislos, waren empört und schrieben später in Magazi- nen, wie wütend sie gewesen seien, dass sie von ihr erfolgreich getrollt wurden. Sie sahen zu, ohne Verdacht zu schöpfen. Weil die Perfor- mance so nah an der Lebensrealität der sozialen Netzwerke war, sich ihrer Verhaltenscodes, Aus- drucksweise samt passender Hashtags und Bild- sprache bediente. Die Leute waren sauer, weil sie einer Fiktion erlagen, weil die Geschichte, die ihnen vier Monate lang erzählt wurde, nicht der Wahrheit entsprach. Dabei, und das ist die Kern- aussage von Ulman: Jeder ist online ein Lügner. Den Voyeuren vor den Smartphones wäre es lie- ber gewesen, Amalia Ulman wäre nur ein weite- res der hot babes auf Instagram. Dann nämlich wäre alles weiter gegangen wie bisher. So aber endete das Drama nach drei Akten, der Vorhang fiel, das Licht ging an und der Zuschauer war auf sich selbst zurückgeworfen. Ulman hatte ihre Performance tatsächlich als Dreiakter angelegt, sie selbst spricht in Inter- views von Episoden. Auf Instagrammarkiert den Beginn ein Posting, das in Großbuchstaben „Part I“ ankündigt, in der Bildunterschrift steht „Excellences & Performances“. Vielleicht war zu irgendeinem Zeitpunkt geplant, auch auf Teil zwei und drei hinzuweisen, aber damit wäre sie sicherlich aufgeflogen. Ihr virtuelles Alter Ego macht in den vier Monaten all das durch, was in den sozialen Netzwerken sonst auch passiert, nur eben nicht in so kurzer Zeit und nicht unbedingt einer einzigen Person. Während der Entstehung der Arbeit war das Atelier der Künstlerin ihr Smartphone, sie sah sich auf Tumblr, Facebook und Instagram um, beobachtete, wie Mädchen und Frauen sich in den sozialen Netzwerken prä- sentieren und griff all die Stereotypen auf, die sie ausmachte. Das brave Mädchen von nebenan, das ständig seine frisch lackierten Finger ins Bild hält, nach dem Aufstehen verschlafen vor dem Spiegel im OOTD, dem Outfit of the Day, steht und allen einen ganz zauberhaften gutenMorgen wünscht, den Kaffee fürs Foto mit Blüten und Blättern ver- ziert und im Bett nur ein kleines putziges Kätz- chen liegen hat. Nach dem Umzug in die große Stadt wird aus dem lieben Nachbarskind ein hot babe, das etwas zu lang Kim Kardashian auf Ins- tagram folgte. Das Geld für den entsprechenden Lifestyle und Körper fehlt? Dann müssen eben ein Sugar Daddy und eine Brustvergößerung her, den Rest bringt regelmäßiges Workout. Dass das nicht lange gut gehen kann, ist zumin- dest in dieser fiktiven Biografie programmiert. Denn schließlich muss sich der Konflikt zuspit- zen und zur Lösung führen. Also stürzt das hot babe ab, das sich irgendwann zwischen den vie- len Dates, dem Posen vor dem Spiegel und dem Hantieren mit einer Waffe vor der Kamera selbst verloren hat. Auf den Nervenzusammenbruch folgt ganz Hollywood-Klischee Rehab und die Umkehr zu einem bewussten und gesunden Le- bensstil samt Yoga, Meditation, Holz im Wohn- zimmer, Käffchen mit der Schwester und grü- nem Smoothie zum Frühstück. Das Kätzchen im Bett wird durch einen süßen Boyfriend ersetzt, der im Schlaf lächelt wie ein Engel. „So cute! #cu- tegasm“ Und plötzlich, fast zwei Jahre nach ihrer Entste- hung, wird die Performance überall diskutiert. Zwei Ausstellungen in London nämlich zeigen die Arbeit. „Electronic Superhighway“ in der Whitechapel Gallery, die gestern eröffnete, und „Performing for the Camera“ in der Tate, die ab Mitte Februar läuft. Jetzt, wo die Tate betroffen ist – anders kann man es nicht sagen –, eines der wichtigsten Museen der Welt, werfen auch die großen Zeitungen und Kunstmagazine Fragen auf. „Is this the first Instagrammasterpiece?“ Der Telegraph möchte es wissen. Und artnet fragt, ob die sozialenMedien überhaupt einen Platz in der heutigen Museumslandschaft haben sollten. Ge- genfrage: Warum eigentlich nicht? War es erst die Fotografie, die man lange nicht als künstleri- sches Medium gelten lassen wollte, ist es heute ein Kanal, den Künstler wie alle anderen nutzen – und da liegt viellleicht das Problem –, um Ar- beiten zu zeigen. Alltag und Kunst liegen inzwi- schen gelegentlich so nah beieinander, dass das eine untrennbar mit dem anderen verbunden ist. […] Zwei Jahre später ist Amalia Ulman einige Arbei- ten, Galerie-Ausstellungen und ein Sponsoring von Gucci weiter. Auf ihrer Homepage hat sie die Ausstellung in der Tate mit ihrer Beteiligung an- gekündigt. Und wieder freut sie sich: „Isn’t this great :-)“ QUELLE: http://www.monopol-magazin.de/anika-meier-amalia-ulman ; (abgerufen am 31.01.2016) 38 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62 64 66 68 70 72 74 76 78 80 82 84 86 88 90 92 94 96 98 100 102 104 106 108 110 112 114 116 118 120 122 124 126 128 130 132 134 Mediale Bildung 2  Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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