sprachreif 3, Schulbuch

34 Pilgerstätte Skatopia: Freistaat feiern Von Danny Kringiel | 07.01.2011 Mitte der Neunzigerjahre gründete eine Handvoll Lebenskünstler in den USA ein Paradies für Ausstei- ger, Skater und rebellische Teenies. Sie schufen einen utopischen Mini-Staat, geführt von einem täto- wierten Diktator und CIA-Agenten, die Autos anzündeten. Die Hügel im Umland von Rutland, Ohio, sehen aus wie ein Kriegsschauplatz: Pulverdampf durchzieht den Nachthimmel. Silvesterraketen erleuchten schiefe Bretterbuden, Wohnwagen, Skateboard-Rampen und Tausende Flaschen- scherben im Gras. Motorengeräusche und Don- nern hallen durch die Luft. Zwei Männer lassen sich auf einer Holzplanke von einem Jeep durch den Matsch ziehen. Sie trinken Dosenbier dabei. Aus einer rosabemalten Scheune beschallt eine Punkrockband das Anwesen in den Hügeln. Der bis auf einen String-Tanga … nackte Sänger brüllt wie im Todeskampf ins Mikro – während sich das Publikum selig lächelnd herumschubst. Eine Stripperin tanzt auf der Veranda der Scheu- ne, rutscht von ihrer Stange ab und plumpst auf den Boden. Mit einem Flammenwerfer steckt ein Tätowierter einen Berg aus Autowracks in Brand. Die Masse drängt sich wie um ein Lagerfeuer. Ei- nige springen auf die brennenden Wracks und dreschen mit Äxten und Skateboards auf sie ein. Plötzlich ertönt über dem Chaos eine Stimme durch ein Megafon: „Hey Nachbarn! Wir haben mehr Spaß als ihr!“ Es ist die Stimme des „Diktators“, wie Brewce Martin sich selbst nennt. 1995 kam er nach Rut- land, einer 420-Seelen-Gemeinde, in der große Ländereien die Farmhäuser voneinander tren- nen und sich keiner wirklich darum schert, was der Nachbar macht. Der ideale Ort, um Martins Kindheitstraum zu verwirklichen: eine abge- trennte kleine Welt zu erschaffen, in der Skate- boarder so wild, laut und betrunken sein dürfen wie sie wollen. Er und ein paar Freunde kauften günstig 36 Hektar Land in einer der ärmsten Ge- genden von Ohio. An diesem Ort, so schworen sie sich, werde eines Tages der größte Skatepark der Welt entstehen. Ein Mekka, zu dem Roll- brettfahrer aus aller Herren Länder pilgern wür- den, um zu feiern. Und sie rammten jenes Schild in den Boden, das noch heute an der Einfahrt zum Grundstück steht: „Skatopia. Betreten auf eigene Gefahr.“ […] Martin ist ein Mann in den Vierzigern, aber er wirkt jünger. Vielleicht liegt es an den blonden Surfersträhnen, die in sein sonnengegerbtes Ge- sicht hängen. Vielleicht auch an den Tätowierun- gen, die seine muskulösen Arme zieren. Oder einfach an der überbordenden Energie, mit der er ständig, schnell und laut redet. […] Jeder brauche ein Oberhaupt wie Dschingis Khan, so Martin, und er sei schon immer ein Anführer ge- wesen. […] Angesichts der Herausforderung, den welt- größten Skatepark ohne jedes Budget bauen zu wollen, entpuppte sich Brewce Martin als echter Marketing-Stratege: Er gründete eine Organisa- tion der Skatopia-Unterstützer. Und taufte sie auf den Namen „CIA“ − als Kürzel für „Citizens Ins- tigating Anarchy“, Bürger, die zur Anarchie an- stiften. Mitglieder der Organisation durften sich verschwörerisch als „Agenten“ bezeichnen. […] Vor allem aber kamMartin eine Idee, wie sie den Skatepark weitestgehend ohne Geld bauen konn- ten: Wer auch immer nach Skatopia kommt, um dort zu feiern, zu trinken und zu skaten, muss sich auch heute noch verpflichten, mindestens eine Stunde mitzuarbeiten. Und die Leute kamen in Scharen: Vor allem im Sommer, während des jährlichen „Summer Bowl Bash“-Skateboard-Wettbewerbs, verwandelt sich die Farm in eine Art Skatepunk-Woodstock. […] Mittlerweile reisen Leute aus allen Teilen der Welt an, um in der bizarren Skateboard-Kom- mune auszurasten. Für viele Leute sei das so et- was wie ein Urlaubsresort, erklärt Martin. Die Menschen kämen hierher, um sich zu entspan- nen, sich mit Silvesterraketen zu beschießen, Sex mit Fremden zu haben, zu skaten und sich dabei 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62 64 66 68 70 72 74 76 78 80 Schriftliche Kompetenz 1  Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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