sprachreif 3, Schulbuch

158 Franz Kafka: Der Nachbar Mein Geschäft ruht ganz auf meinen Schultern. Zwei Fräulein mit Schreibmaschinen und Ge- schäftsbüchern im Vorzimmer, mein Zimmer mit Schreibtisch, Kasse, Beratungstisch, Klub- sessel und Telefon, das ist mein ganzer Arbeits­ apparat. So einfach zu überblicken, so leicht zu führen. Ich bin ganz jung und die Geschäfte rol- len vor mir her. Ich klage nicht, ich klage nicht. Seit Neujahr hat ein junger Mann die kleine, leerstehende Nebenwohnung, die ich unge- schickterweise so lange zu mieten gezögert habe, frischweg gemietet. Auch ein Zimmer mit Vor- zimmer, außerdem aber noch eine Küche. – Zimmer und Vorzimmer hätte ich wohl brau- chen können – meine zwei Fräulein fühlten sich schon manchmal überlastet –, aber wozu hätte mir die Küche gedient? Dieses kleinliche Beden- ken war daran schuld, dass ich mir die Wohnung habe nehmen lassen. Nun sitzt dort dieser junge Mann. Harras heißt er. Was er dort eigentlich macht, weiß ich nicht. Auf der Tür steht: „Har- ras, Bureau“. Ich habe Erkundigungen eingezo- gen, man hat mir mitgeteilt, es sei ein Geschäft ähnlich dem meinigen. Vor Kreditgewährung könne man nicht geradezu warnen, denn es handle sich doch um einen jungen, aufstreben- den Mann, dessen Sache vielleicht Zukunft habe, doch könne man zum Kredit nicht geradezu ra- ten, denn gegenwärtig sei allem Anschein nach kein Vermögen vorhanden. Die übliche Aus- kunft, die man gibt, wenn man nichts weiß. Manchmal treffe ich Harras auf der Treppe, er muss es immer außerordentlich eilig haben, er huscht formlich an mir vorüber. Genau gesehen habe ich ihn noch gar nicht, den Büroschlüssel hat er schon vorbereitet in der Hand. Im Augen- blick hat er die Tür geöffnet. Wie der Schwanz einer Ratte ist er hineingeglitten und ich stehe wieder vor der Tafel „Harras, Bureau“, die ich schon viel öfter gelesen habe, als sie es verdient. Die elend dünnen Wände, die den ehrlich täti- gen Mann verraten, den Unehrlichen aber decken. Mein Telefon ist an der Zimmerwand angebracht, die mich von meinem Nachbar trennt. Doch hebe ich das bloß als besonders ironische Tatsache hervor. Selbst wenn es an der entgegengesetzten Wand hinge, würde man in der Nebenwohnung alles hören. Ich habe mir abgewöhnt, den Namen der Kunden beim Telefon zu nennen. Aber es gehört natürlich nicht viel Schlauheit dazu, aus charak- teristischen, aber unvermeidlichen Wendungen des Gesprächs die Namen zu erraten. – Manch- mal umtanze ich, die Hörmuschel am Ohr, von Unruhe gestachelt, auf den Fußspitzen den Ap- parat und kann es doch nicht verhüten, dass Ge- heimnisse preisgegeben werden. Natürlich werden dadurch meine geschäftlichen Entscheidungen unsicher, meine Stimme zittrig. Was macht Harras, während ich telefoniere? Wollte ich sehr übertreiben – aber das muss man oft, um sich Klarheit zu verschaffen –, so könnte ich sagen: Harras braucht kein Telefon, er be- nutzt meines, er hat sein Kanapee an die Wand gerückt und horcht, ich dagegen muss, wenn ge- läutet wird, zum Telefon laufen, die Wünsche des Kunden entgegennehmen, schwerwiegende Entschlüsse fassen, großangelegte Überredun- gen ausführen – vor allem aber während des Ganzen unwillkürlich durch die Zimmerwand Harras Bericht erstatten. Vielleicht wartet er gar nicht das Ende des Ge- spräches ab, sondern erhebt sich nach der Ge- sprächsstelle, die ihn über den Fall genügend aufgeklärt hat, huscht nach seiner Gewohnheit durch die Stadt und, ehe ich die Hörmuschel aufgehängt habe, ist er vielleicht schon daran, mir entgegenzuarbeiten. QUELLE: http://www.textlog.de/32058.html ; (abgerufen am 11.07.2016, Rechtschreibung adaptiert) Konnektoren und Verweiswörter Konnektoren verbinden Sätze oder Satzteile miteinander, sie tragen also zu einem besseren Textver- ständnis bei. Verweiswörter beziehen sich auf ein zuvor oder nachfolgend genanntes Wort. AH S. 66 ff.. M 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62 64 66 68 70 72 74 76 78 Sprach­ reflexion 5  Nur zu Prüfzwecken – Eig entum des Verlags öbv

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