sprachreif 3, Schulbuch

148 Ich will deinen Atem nicht auf meinen Wangen. Warum lasse ich ihn nicht einfach stehen? Bannt mich sein Blick? Wir schauen uns ins Auge wie Todfeinde. Ich möchte ihm Schuft sagen, aber ich kann nicht. Oder will ich nicht? – „Sie sehen mich an, Else, als wenn ich verrückt wäre. Ich bin es vielleicht ein wenig, denn es geht ein Zauber von Ihnen aus Else, den Sie selbst wohl nicht ah- nen. Sie müssen fühlen, Else, dass meine Bitte kei- ne Beleidigung bedeutet. Ja, ‚Bitte’ sage ich, wenn sie auch einer Erpressung zum Verzweifeln ähn- lich sieht. Aber ich bin kein Erpresser, ich bin nur ein Mensch, der mancherlei Erfahrungen gemacht hat, – unter andern die, dass alles auf der Welt seinen Preis hat und dass einer, der sein Geld ver- schenkt, wenn er in der Lage ist, einen Gegenwert dafür zu bekommen, ein ausgemachter Narr ist. Und – was ich mir diesmal kaufen will, Else, so viel es auch ist, Sie werden nicht ärmer dadurch, dass Sie es verkaufen. Und dass es ein Geheimnis bleiben würde zwischen Ihnen und mir, das schwöre ich Ihnen, Else, bei – bei all den Reizen, durch deren Enthüllung Sie mich beglücken wür- den.“ – Wo hat er so reden gelernt? Es klingt wie aus einem Buch. – „Und ich schwöre Ihnen auch, dass ich – von der Situation keinen Gebrauch ma- chen werde, der in unserem Vertrag nicht vorgese- hen war. Nichts anderes verlange ich von Ihnen, als eine Viertelstunde dastehen dürfen in Andacht vor Ihrer Schönheit. Mein Zimmer liegt im glei- chen Stockwerk wie das Ihre, Else, Nummer fünf- undsechzig, leicht zu merken. Der schwedische Tennisspieler, von dem Sie heut’ sprachen, war doch gerade fünfundsechzig Jahre alt?“ – Er ist verrückt! Warum lasse ich ihn weiterreden? Ich bin gelähmt. – „Aber wenn es Ihnen aus irgend- einem Grunde nicht passt, mich auf Zimmer Nummer fünfundsechzig zu besuchen, Else, so schlage ich Ihnen einen kleinen Spaziergang nach dem Diner vor. Es gibt eine Lichtung im Walde, ich habe sie neulich ganz zufällig entdeckt, kaum fünf Minuten weit von unserem Hotel. – Es wird eine wundervolle Sommernacht heute, beinahe warm, und das Sternenlicht wird Sie herrlich klei- den.“ – Wie zu einer Sklavin spricht er. Ich spucke ihm ins Gesicht. – „Sie sollen mir nicht gleich antworten, Else. Überlegen Sie. Nach dem Diner werden Sie mir gütigst Ihre Entscheidung kundtun.“ – Warum sagt er denn „kundtun“. Was für ein blödes Wort: kundtun. – „Überlegen Sie in aller Ruhe. Sie werden vielleicht spüren, dass es nicht einfach ein Handel ist, den ich Ihnen vorschlage.“ – Was denn, du klingender Schuft! – „Sie werden möglicherweise ahnen, dass ein Mann zu Ihnen spricht, der ziemlich einsam und nicht besonders glücklich ist und der vielleicht ei- nige Nachsicht verdient.“ – Affektierter Schuft. Spricht wie ein schlechter Schauspieler. Seine gepflegten Finger sehen aus wie Krallen. Nein, nein, ich will nicht. Warum sag’ ich es denn nicht. Bring’ dich um, Papa! Was will er denn mit meiner Hand? Ganz schlaff ist mein Arm. Er führt meine Hand an seine Lippen. Heiße Lip- pen. Pfui! Meine Hand ist kalt. Ich hätte Lust, ihm den Hut herunter zu blasen. Ha, wie ko- misch wär’ das. Bald ausgeküsst, du Schuft? – […] „Also auf Wiedersehen, Else.“ – Ich antworte nichts. Regungslos stehe ich da. Er sieht mir ins Auge. Mein Gesicht ist undurchdringlich. Er weiß gar nichts. Er weiß nicht, ob ich kommen werde oder nicht. Ich weiß es auch nicht. Ich weiß nur, dass alles aus ist. Ich bin halbtot. Da geht er. Ein wenig gebückt. Schuft! Er fühlt mei- nen Blick auf seinem Nacken. Wen grüßt er denn? Zwei Damen. Als wäre er ein Graf, so grüßt er. Paul soll ihn fordern und ihn totschie- ßen. Oder Rudi. Was glaubt er denn eigentlich? Unverschämter Kerl! Nie und nimmer. Es wird dir nichts anderes übrig bleiben, Papa, du musst dich umbringen. – Die Zwei kommen offenbar von einer Tour. Beide hübsch, er und sie. Haben sie noch Zeit, sich vor dem Diner umzukleiden? Sind gewiss auf der Hochzeitsreise oder viel- leicht gar nicht verheiratet. Ich werde nie auf ei- ner Hochzeitsreise sein. Dreißigtausend Gulden. Nein, nein, nein! Gibt es keine dreißigtausend Gulden auf der Welt? Ich fahre zu Fiala. Ich komme noch zurecht. Gnade, Gnade, Herr Dok- tor Fiala. Mit Vergnügen, mein Fräulein. Bemü- hen Sie sich in mein Schlafzimmer. – Tu mir doch den Gefallen, Paul, verlange dreißigtau- send Gulden von deinem Vater. Sage, du hast Spielschulden, du musst dich sonst erschießen. Gern, liebe Kusine. Ich habe Zimmer Nummer soundsoviel, um Mitternacht erwarte ich dich. O, Herr von Dorsday, wie bescheiden sind Sie. Vorläufig. Jetzt kleidet er sich um. Smoking. Also entscheiden wir uns. Wiese im Monden- schein oder Zimmer Nummer fünfundsechzig? Wird er mich im Smoking in den Wald beglei- ten? […] QUELLE: Arthur Schnitzler: Fräulein Else. Herausgegeben von Johannes Pankau. Stuttgart: Philipp Reclam jun., 2002, S. 34 ff. (Rechtschreibung adaptiert) 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62 64 66 68 70 72 74 76 78 80 82 84 86 88 90 92 94 96 98 100 102 104 106 108 110 112 Eine Textinterpretation schreiben Schritt 1: Planen Schriftliche Kompetenz 5  Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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