sprachreif 3, Schulbuch

145 sagt er. Beim Großeinkauf lasse er sich aber weiterhin bedienen. Nicht so eine ältere Dame. Mit einer jüngeren Freundin scannt sie eine ganze Wagenladung ein. Beim Zahlen mit der Karte stockt sie. Eine für den Express- Bereich abgestellte Mitarbeite- rin beobachtet sie und eilt her- bei. Die Szene erinnert an die ersten Check-in-Automaten am Flughafen. „Das nächste Mal klappt’s. Ich bin 91, da muss man offen für Neues sein“, sagt die Dame vergnügt. „Und Zeit zu verlieren hab ich auch kei- ne.“ In Studien werden die Personal- kosten im Kassenbereich auf 25 bis 30 Prozent geschätzt. Wie viel spart sich Spar künftig? Nichts, sagt Spar-Sprecherin Nicole Berkmann. „Wo sonst eine Kassierin sitzt, werden jetzt von einem Mitarbeiter mehrere Expresskassen betreut. Da die Kassierin aber schneller ist als die Kunden selbst und Express­ kassen mehr Platz brauchen, bleibt in Summe der Perso- naleinsatz wieder gleich.“ Schnelligkeit ist relativ Warum heißt sie aber „Express- Kasse“, wenn die Kassierin schneller ist? Weil Schnelligkeit relativ ist. Sie hängt von der An- zahl der Kassierinnen und vom Kundenandrang ab. Außerdem gäbe es ja für Stoßzeiten auch Expresskassen mit Personal. Bei Merkur werden sie nun ersetzt. „Das macht nur Sinn in Relati- on dazu, dass man zu wenig an- dere Kassen hat“, sagt Arbeits- Soziologe Jörg Flecker zur Umstellung auf Self-Scan-Kas- sen. „Die Konzerne nutzen die Zeit ihrer Konsumenten. Be- zahlte Arbeit wird in unbezahl- te verwandelt.“ Warum spielen die Kunden mit? Weil ihnen „Incentives“ geboten werden. Beim Online- Banking ist der Kunde unab- hängig von den Öffnungszeiten der Bank, für manche Zugti- ckets zahlt man am Schalter mehr als online, das Buch von Amazon kommt frei Haus, im Supermarkt umgeht man die Warteschlange. Und wo liegen die Vorteile für die Konzerne? „Ohne Einsparungen beim Per- sonal machen teure Investitio- nen in Maschinen betriebswirt- schaftlich keinen Sinn“, glaubt Flecker langfristig nicht an ein Nullsummenspiel. Nicht zuletzt die Hersteller der Automaten werben damit, dass sich diese in kurzer Zeit rechnen. Und das benötigte Hilfsperso- nal im Expressbereich? In ande- ren Branchen sei zu beobachten gewesen, dass das Hilfspersonal abnahm, sobald sich die Kun- den auskannten, sagt Flecker. Auch die Gewerkschaft beäugt die Wachablöse von Mensch durch Maschine skeptisch. Als Ikea Deutschland den flächen- deckenden Einsatz von Selbst- bedienungskassen beschloss, warnte die Gewerkschaft Verdi vor dem Verlust tausender Ar- beitsplätze. In Österreich setzt Ikea in der SCS weiterhin bloß auf zwei „Self-Check-outs“. Schöne neue Welt 3 ? Der „automatische“ Super- markt beschränkt sich längst nicht mehr auf den Kassenbe- reich. Billa setzt bei der „Best-Preis-Garantie“ auf eine elektronische Preisauszeich- nung, die zentral gesteuert ist, aber aussieht wie echt. „Wir tes- ten weiterhin Optionen“, sagt Schurin. Es sei eine Erleichte- rung für die Mitarbeiter. Spar hat in den letzten fünf Jah- ren über 7000 neue Mitarbeiter aufgenommen – keine Spur vom Ersatz Mensch durch Ma- schine. Fürs Gesamtbild müsse man aber berücksichtigen, wie sehr der Handel in Österreich auf wenige Ketten konzentriert ist und wie viele andere Ge- schäfte aus dem Markt fliegen, sagt Flecker. Bei großen Playern sei Rationalisierung und Perso- nalaufstockung kein Wider- spruch. Mach du, Maschine In der Geschichte der Arbeit war die Maschinisierung positiv konnotiert – sie stand für mehr Freizeit und weniger Anstren- gung. Um die verbleibende Ar- beit auf mehr Köpfe aufzuteilen und die Kaufkraft zu halten, sank die Arbeitszeit bei vollem Lohnausgleich. Seit den 80ern wehren sich Arbeitgeber mit Hinweis aufs globale Kosten- match dagegen. Gewerkschaf- ten scheinen machtlos. Im Handel sind Arbeitszeiten längst verkürzt. Teilzeit boomt. Die geht mit Lohnverzicht ein- her. Mit den neuen Self-Scan- Kassen kommt eine gänzlich unbezahlte Teilzeitkraft dazu: der Kunde. 2 2014, Anm. d. AutorInnen 3 Clemens Neuhold spielt auf den 1932 erschienenen Roman von Aldous Huxley an, der eine Dystopie (= negatives Gegenteil von Utopie) einer Welt beschreibt, in der selbst der kleinste Bereich vom Staat kontrolliert wird und in dem Alpha-Menschen die Herrschaft über alle anderen „niedrigeren“ Menschen ausüben. QUELLE: http://www.wienerzeitung.at/nachrichten/wirtschaft/oesterreich/674654_Der-Kassier-in-dir.html ; (abgerufen am 16.07.2016) 80 82 84 86 88 90 92 94 96 98 100 102 104 106 108 110 112 114 116 118 120 122 124 126 128 130 132 134 136 138 140 142 144 146 148 150 152 154 156 158 160 162 164 166 168 170 172 174 176 178 180 182 184 186 188 190 192 194 196 198 200 202 204 206 208 210 212 214 Text- kompetenz Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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