sprachreif 3, Schulbuch

124 dendocken lagen auf einem großen, runden Tisch bunt durch- einander, dazwischen, noch vom Lunch her, ein paar Dessertteller und eine mit großen schönen Stachelbeeren gefüllte Majolika- schale. Rasch und sicher ging die Wollnadel der Damen hin und her, aber während die Mutter kein Auge von der Arbeit ließ, legte die Tochter, die den Rufnamen Effi führte, von Zeit zu Zeit die Nadel nieder und erhob sich, um unter allerlei kunstgerechten Beugungen und Streckungen den ganzen Kursus der Heil- und Zimmergymnastik durchzumachen. Es war ersichtlich, dass sie sich diesen absichtlich ein wenig ins Komische gezogenen Übun- gen mit ganz besonderer Liebe hingab, und wenn sie dann so da- stand und, langsam die Arme hebend, die Handflächen hoch über dem Kopf zusammenlegte, so sah auch wohl die Mama von ihrer Handarbeit auf, aber immer nur flüchtig und verstohlen, weil sie nicht zeigen wollte, wie entzückend sie ihr eigenes Kind finde, zu welcher Regung mütterlichen Stolzes sie voll berechtigt war. Effi trug ein blau und weiß gestreiftes, halb kittelartiges Leinwand- kleid, dem erst ein fest zusammengezogener, bronzefarbener Le- dergürtel die Taille gab; der Hals war frei, und über Schulter und Nacken fiel ein breiter Matrosenkragen. In allem, was sie tat, paarten sich Übermut und Grazie, während ihre lachenden brau- nen Augen eine große, natürliche Klugheit und viel Lebenslust und Herzensgüte verrieten. Man nannte sie die „Kleine“, was sie sich nur gefallen lassen musste, weil die schöne, schlanke Mama noch um eine Handbreit höher war. Eben hatte sich Effi wieder erhoben, um abwechselnd nach links und rechts ihre turnerischen Drehungen zu machen, als die von ihrer Stickerei gerade wieder aufblickende Mama ihr zurief: „Effi, eigentlich hättest du doch wohl Kunstreiterin werden müssen. Immer am Trapez, immer Tochter der Luft. Ich glaube beinah, dass du so was möchtest.“ QUELLE: http://gutenberg.spiegel.de/buch/effi-briest-4446/1 ; (abgerufen am 03.05.2016, an neue Rechtschreibung angepasst) 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 Diskutieren Sie mit Ihrer Partnerin oder Ihrem Partner folgende Fragen zum Text: •• Was fällt Ihnen in Bezug auf die Sprache des Textes auf? •• Halten Sie die Schilderung für „realistisch“? •• Welche Grundstimmung herrscht in der Erzählung? Lesen Sie nun den Textauszug von Gottfried Kellers Werk. Schildern Sie anschließend in zehn Sätzen die dargestellte Situation. Gottfried Keller: Romeo und Julia auf dem Dorfe Indessen sollte der Acker doch endlich verkauft und der Erlös einstweilen amtlich aufgehoben werden. Die Versteigerung fand an Ort und Stel- le statt, wo sich aber nur einige Gaffer einfanden außer den Bauern Manz und Marti, da niemand Lust hatte, das seltsame Stückchen zu erstehen und zwischen den beiden Nachbaren zu bebau- en. Denn obgleich diese zu den besten Bauern des Dorfes gehörten und nichts weiter getan hat- ten als was zwei Drittel der übrigen unter diesen A28  B A29  2 4 6 8 10 Literarische Bildung 4  Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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