sprachreif 2, Schulbuch
26 besagte nämlich, dass nach der Jahrtausendwende die Zeit des Messias anbrechen würde, und wenn es soweit wäre, wollte Otto noch als Herrscher der christlichen Welt im Amt sein. Deshalb, so Illigs These, habe Otto mit Hilfe von Papst Silves- ter irgendwann alle Schreibstu- ben und Kanzleien in Mittel- und Westeuropa angewiesen, künftig das Jahr 999 zu schrei- ben. Berittene Kuriere streuten entsprechende Musterbücher. Die zusätzlichen Jahrhunderte sollten mit erfundenen Ge- schichten gefüllt werden. Mit den Geschichten, die wir heute in der Schule lernen. Wie die Kuriere Zugang zu den Skripto- rien erhielten, warum kein Mönch oder Gelehrter es abge- lehnt hat, das Machwerk abzu- schreiben, warum sich kein ein- ziger Pergamentfetzen erhalten hat, der die geheime Operation belegen würde, das alles kann sich keiner erklären. Deshalb glaubt auch keiner an die Theo- rie. Bis auf einen kleinen Kreis um Illig und eine Dunkelziffer von Verschwörungs-Fans. Illig gibt seit Jahren in seinem eige- nen Verlag die Zeitschrift Zeitsprünge heraus, in der Ver- traute von ihm seine „Phan- tomzeit“-These weiterent- wickeln oder damit noch mehr Epochen der Geschichte in Fra- ge stellen. Die Anhänger nennen sich selbst „Zeitspringer“, Autoren wie Gunnar Heinsohn oder An- dreas Otte gehören dazu. Im In- ternet wachsen die Netzwerke von Geschichtsskeptikern und Hochstaplern, die den Unter- gang Pompejis, Cäsars Feldzüge oder die Christianisierung Eu- ropas bezweifeln oder umdatie- ren wollen. Je provokanter die These, desto größer das Inter- esse des Publikums. Illigs Buch Das erfundene Mittelalter ver- kaufte sich mehr als 100.000 Mal. Illig untermauert seine The- se mit Argumenten aus allen möglichen Disziplinen, vor al- lem Archäologie, aber auch Kunstgeschichte, Literaturwis- senschaft oder Astronomie. Sein Hauptargument ist die Be- obachtung, dass so wenige Spu- ren aus der fraglichen Zeit er- halten sind. Dabei wird besonders die Regierungszeit Karls des Gro- ßen (768-814) in den Quellen als glänzende Epoche beschrie- ben. Wo sind also die ganzen Kathedralen, Reliquienschreine und Prunkhandschriften ge- blieben? Illig versucht seit 17 Jahren, auch noch die wenigen erhaltenen Zeugnisse der Karo- lingerzeit wegzuforschen. Die Urkunden? Die sind ge- fälscht, behauptet er. Die be- rühmten Reichsannalen? Später geschrieben. Die erhaltenen Gebäude? Falsch datiert. Sein Lieblingsbeispiel ist der Aache- ner Dom. In zig Vorträgen und Aufsätzen hat er zu erklären versucht, dass die steinerne Kuppel nicht aus der Karolin- gerzeit stammen kann, sondern jünger sein muss. Der Aachener Dom ist seine stärkste Waffe: „Aachen habe ich zerlegt. Die Argumentation hat mir noch keiner geknackt.“ Morgens wacht er mit dem Gedanken an seine Phantom- zeit auf und fragt sich: Ist es heute soweit? Finden sie heute den Gegenbeweis? Es wäre eine Katastrophe für ihn. Illig nennt den Kampf um seine These „mein Lebenselixier“. Ein Stein- chen genügt, ein winziger Fund, und der Kampf ist vorbei. Er- fundene Zeiten können keine Spuren hinterlassen. Aber sie finden ja nichts, niemals finden die was! Illig sitzt am Esszimmertisch und lacht über „den Schmarrn“ der Mediävisten. Ihre ständigen Grabungen nennt er „Rohr- krepierer“, schließlich herrscht Krieg. Er glaubt ihnen ihre Be- weise und Überreste nicht. Er sagt immer „sie“. Die Historiker, das sind die anderen, er zählt sich selbst nicht dazu, und sie ihn auch nicht, weil er nie Geschichte studiert hat, sondern promo- vierter Germanist und Diplom- kaufmann ist. Er lebt von seinen Büchern und Vorträgen. Illig, der historische Auto- didakt, glaubt, dass er der Grund ist für die vielen Gra- bungen in den vergangenen Jahren. Aus seiner Sicht soll da- mit die Wahrheit zugedeckt werden, die er ans Licht bringen will. Er sagt: „Man ist dabei, ge- zielt Funde in die leere Zeit zu schaufeln.“ Es klingt verbittert und überheblich zugleich. So muss man sich wohl fühlen, wenn man den Stein der Weisen gefunden zu haben glaubt und niemand ihn bestaunen will. Die Mediävisten antworte- ten auf Illigs These mit Spott, Verleumdungen und Missach- tung. In dieser Reihenfolge. An- fangs schickten sie noch Vertre- ter in Talkshows und auf Podiumsdiskussionen, um den Emporkömmling vorzuführen. Rudolf Schieffer, als Präsi- dent der Monumenta Germa- niae Historica eine Art geistli- 84 86 88 90 92 94 96 98 100 102 104 106 108 110 112 114 116 118 120 122 124 126 128 130 132 134 136 138 140 142 144 146 148 150 152 154 156 158 160 162 164 166 168 170 172 174 176 178 180 182 184 186 188 190 192 194 196 198 200 202 204 206 208 210 212 214 216 218 220 222 224 226 228 230 232 Text- kompetenz Mediale Bildung 1 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
Made with FlippingBook
RkJQdWJsaXNoZXIy ODE3MDE=