sprachreif 2, Schulbuch
169 Plädoyer 4 für mehr Langeweile Nichtstun lernen Von Marie Amrhein | 29.06.2014 Durch Smartphone- und Internet-Gedaddel hat die moderne Zivilisation eines verlernt: Nichtstun. Unsere Kolumnistin hat angefangen zu üben und tut – einfach mal nichts. Wir hatten viele gute Gründe für unseren Um- zug raus auf einen Bauernhof. Der eine war die Verlockung, nun mehr Zeit für die wahrhaft wichtigen Dinge im Leben zu haben. In gewisser Weise stimmt das. Zwischen Müsli und Kin- der-in-die-Kita bringen zwei Minuten feuchte Wiesenluft einatmen und sich von einem Pferd beschnauben zu lassen zum Beispiel. Für so et- was war in der Stadt keine Zeit. Auf der anderen Seite eilt auch hier der Bauer zwischen Weiden, Ställen und Werkstatt hin und her, während ich mich zwischen Schreibtisch und Kindergarten abhetze. Und wenn da mal freie Zeit ist? Dann tappe auch ich viel zu häufig in die Medienfalle. Die moderne Zivilisation, ob auf dem Land oder in der Stadt, hat eine ernstzunehmende Krank- heit: Sie kann nicht mehr Nichtstun. Wir kennen das von permanent über ihre Smartphones wi- schelnden Mitfahrern in der Bahn, von den Kin- dern, die ohne App auf dem Tablet nur schwer- lich fünfzehnMinutenLangeweile aushalten–und von uns selbst. Denn irgendwie war doch der Abend vor der Glotze früher weniger anstren- gend. Seitdem wir über das Internet fernsehen, wird mehr zwischen Streams, Fernsehseiten, E- Mailprogrammen und Facebook hin- und herge- sprungen, denn je. Wir verplempern Momente kostbarer Zeit am PC und ärgern uns hinterher, dass wir unsere Batterien nicht aufgeladen, son- dern strapaziert haben. So ist das Post-Netzbe- such-Gefühl doch häufig, wenn wir mal ehrlich sind. Wir treten die Freizeit mit Füßen Freizeit mit Sinnhaftem zu füllen, fällt uns schwer. Unsere Beziehung zur Freizeit hat zu- nehmend etwas von einer klassischen Tragödie. Nichts wird in der modernen Arbeitswelt so sehr beklagt wie die fehlende Freizeit. Und nichts tre- ten wir so sehr mit Füßen, wenn wir sie erlangt haben. Gleichzeitig gilt der „Burnout als moderne Tap- ferkeitsmedaille“, wie Stephan Grünewald, Autor des kürzlich erschienenen Buches „Die erschöpf- te Gesellschaft“ im Cicero-Interview sagt. Die Deutschen sollten vielmehr wieder lernen zu träumen. Genau davor aber hätten sie Angst, meint Grünewald, denn durch das Träumen könnten sie erkennen, dass sie ihr Leben ändern müssten. Lieber also arbeiten wir uns kaputt oder lenken uns mit Mediengedaddel ab – da weiß man, was man hat. Manfred Spitzer, Leiter der Psychiatrischen Uni- versitätsklinik in Ulm und des Transferzentrums für Neurowissenschaften versucht herauszufin- den, was das für unser Gehirn bedeutet und ist sich sicher: Nichts Gutes. Immer wieder mahnt Spitzer den Konsum sozialer Medien ein. Wer in jungen Jahren viel Zeit amComputer verbrächte, verspiele soziale Fertigkeiten und Empathie. Im Bayrischen Rundfunk erklärt er, was das Gehirn beimNichtstun tut, und siehe: Dieses knorpelige Gebilde ist zwar immerzu aktiv, wenn es aber mit nichts Bestimmtem beschäftigt wird, dann be- zieht es sich auf sich selbst, kümmert sich um seine eigenen Angelegenheiten sozusagen. Was das im Einzelnen bedeute, könne die Wissen- schaft noch nicht sagen. Aber ein Gehirn, das endlich einmal Zeit für sich hat – das klingt ver- nünftig, meine ich. Zwei Ratten und ein Stromschlag Und jetzt naht die Urlaubszeit, Gipfel der Frei- zeit, das unendliche Glück. Endlich Zeit für uns, für die Familie – für unser stressgeplagtes Hirn? Im Urlaub dürfen wir selbst über unsere Zeit be- stimmen. Es ist der Moment, wo nicht Arbeitge- ber, Lehrer oder Auftraggeber die Kontrolle ha- 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62 64 66 68 70 72 74 Eine Empfehlung schreiben Schritt 1: Planen Schriftliche Kompetenz Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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