sprachreif 1, Schulbuch

49 Kommentar Österreich, ein Staat von gestern Von Irene Brickner | 19.11.2013 Warum man nicht ernsthaft über doppelte Staatsbürgerschaften diskutiert Mit der Erkenntnis, dass man in den vergangenen Jahrzehnten zur Einwanderungsgesellschaft geworden ist, tut man sich in ganz Europa nicht leicht. Aber in Österreich, diesem kleinen Land dem Erdteil inmitten, das schon aufgrund seiner geografi- schen Lage zur Aufnahme von Migranten prädestiniert ist, er- scheint die Situation besonders vertrackt – wie sehr, zeigt etwa der Umgang mit dem Thema Doppelstaatsbürgerschaften. Hierbei, das kann man ohne Übertreibung sagen, handelt es sich um eine Frage mit Zu- kunftsrelevanz. 18,3 Prozent al- ler in Österreich lebendenMen- schen sind entweder selbst im Ausland geboren, oder deren Kinder sind es. Jene unter ih- nen, die nicht die österreichi- sche Staatsbürgerschaft besit- zen, bleiben Außenseiter: So, wie das Wahlrecht derzeit funk- tioniert, sind sie von politischer Mitbestimmung großteils aus- geschlossen. Die Entscheidung wiede- rum, ihre frühere Staatsbürger- schaft zurückzulegen, fällt ih- nen oft schwer. Nicht zuletzt, weil sie in diesem Fall im Her- kunftsstaat oftmals wichtige Rechte zu verlieren drohen. Diesen Menschen den alten Pass nicht wegzunehmen und ihnen den neuen, österreichi- schen trotzdem zu geben, würde derlei Konflikte vielfach beenden. Es würde aus Außen- seitern demokratisch voll legiti- mierte Bürgerinnen und Bürger machen: zum Wohle der reprä- sentativen Demokratie, deren Aushöhlung in diesen Jahren von vielen Beobachtern be- fürchtet und beklagt wird. Doch all diese Argumente scheinen unter den politischen Repräsentanten Österreichs we- nig Überzeugungskraft zu be- sitzen. Mehr Toleranz für Dop- pelstaatsbürgerschaften ist hierzulande derzeit kein The- ma: Während im Nachbarstaat Deutschland die Koalitionsver- handler CDU/CSU und SPD darum ringen, Menschen mit ausländischen Wurzeln zeit ih- res Lebens als erkennbaren Teil der Gesellschaft zu akzeptieren und ihnen alle Rechte als Ein- he imi s che zu gewähren , herrscht bei ihren alpenländi- schen Konterparts SPÖ und ÖVP diesbezüglich Schweigen imWalde. Warum das? Erstens, weil die Diskussion in Österreich noch lange nicht so weit gedie- hen ist wie im Nachbarstaat. Das hat mit den vorherrschen- den politischen Mehrheiten zu tun: Auch in Deutschland wäre die nunmehr als zu einschrän- kend kritisierte Optionslösung ohne entsprechende „linke“, rot-grüne Koalition niemals be- schlossen worden. Diese hatte in Deutschland 1998 Fakten geschaffen, über Einwände von konservativer Seite hinweg, über Vorbehalte, wie sie die Diskussion in Öster- reich nach wie vor bestimmen – obwohl sie aus einer Zeit stammen, in der in Europa der Nationalstaat, und nicht wie heute die Europäische Union, das weiterführende politische Organisationsprinzip war. Damals, vom 19. Jahr- hundert bis hinein in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts, schien der Nationalstaat am besten geeignet, die Loyalität seiner Bewohner zu garantie- ren: eine Loyalität zum Staat und der Gesellschaft, deren Schwinden in Österreich offen- bar im Fall von mehr Doppel- staatsbürgerschaften befürchtet wird. Doch führt heutzutage nicht genau das Gegenteil zu mehr gesellschaftlicher Desintegrati- on? Dann, wenn Einwanderer mangels breiten Doppelstaats- bürgerschaftsmodells lebens- lang Ausländer bleiben? Dar- über gelte es auch hierzulande zu diskutieren. QUELLE: Irene Brickner, DER STANDARD, 19.11.2013. 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62 64 66 68 70 72 74 76 78 80 82 84 86 88 90 92 94 96 98 100 102 104 106 108 110 112 114 Schriftliche Kompetenz Einen Leserbrief schreiben Schritt 3: Überarbeiten Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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