Zeichen 4, Schulbuch
73 anzustellen und aus diesem visuellen Zusammenhang eine Bedeutung abzuleiten. Es gibt noch andere Gegensätze in dem Bild: das laufende Mädchen mit dem Reifen und die leblose Statue, von der wir nur den Schat- ten erkennen. Dass das Kind im Gegenlicht als Silhouette zu sehen ist, bringt es mit dem Schatten der Statue, der sich auf derselben hellen Grund- fläche abbildet, zusammen. Unsere Wahrnehmung verbindet auf diese Weise die beiden Elemente, ohne den Sinn dieser Verbindung wirklich er- klären zu können. Das Laufen des Mädchens, sein flatterndes Haar und auch das Wehen der Fahne an der äußersten Kante des langen, weißen Gebäudes zeigen Bewegung. Aber auch diese Bewegung wirkt seltsam eingefroren. Die eigentümliche Ausstrahlung von Stille und Starrheit, die das Bild in seiner Gesamtheit vermittelt, wird nicht wirklich durchbrochen. Pittura metafisica Zwischen 1910 und 1913 entwickelte de Chirico sein Konzept der „metaphysischen“ Malerei, die nicht die sichtbare Wirklichkeit, sondern einen hinter den realen Dingen liegenden Sinn thematisieren sollte. Gegen Ende des Ersten Weltkriegs kam es in Ferrara zu einer intensiven Zusammenarbeit mit anderen K nstlern. Unter dem Eindruck des Krieges wurde der Sinn und die Bedrohung des menschlichen Daseins zum eigentlichen Thema. Carlo Carrá (1881–1966) und Giorgio Morandi (1890–1964) gehörten zu dieser Bewegung. 9 Giorgio de Chirico: Die Freuden des Dichters, Öl auf Leinwand, 69,5 × 86,4 cm, 1912/13 10 René Magritte: Irene oder Die verbotene Lektüre, Öl auf Leinwand, 54,5 × 73,5 cm, 1936 11 Max Ernst: Der Elefant Celebes (Öl auf Leinwand, 125 × 108 cm), 1921 Dann gibt es auch noch diesen leeren Zirkuswagen mit den offenen Türen. Er steht im Schlagschatten des rechten Gebäudes und ist trotzdem be- leuchtet. Wir können nicht feststellen, woher das Licht kommt. In seinem Bild „Die Freuden des Dichters“ (Abb. 9) beschränkt sich de Chi- rico fast ganz auf Perspektive und Licht. Ein einzelner Mensch setzt einen leichten Akzent und wirkt in der Weite des Bildraums seltsam verloren. Mit ganz reduzierten Mitteln gelingt es de Chirico, die Logik unserer Wahrneh- mung an ihre Grenzen zu führen. Der Gegensatz zwischen der scheinbaren Klarheit des Bildes und der Unmöglichkeit, seinen Sinn eindeutig zu inter- pretieren, erzeugt Unsicherheit und gibt damit dem Bild seine Wirkung. Surrealismus Die Pittura metafisica hat auch anderen Kunstrichtungen der Moderne beeinflusst. Vor allem die Surrealisten , zum Beispiel Max Ernst (1891–1976) oder René Magritte (1898–1967), fanden in der Pittura metafisica Absichten und künstlerische Lösungen, die ihren eigenen Vorstellungen nahestanden. Auch die Surrealisten waren daran interessiert, Betrachterinnen und Betrachter ihrer Werke mit ungelösten Fragen, Ratlosigkeit, Widersprüchen und Mehrdeutigkeiten zu konfrontieren (vgl. Zeichen 2: Bilder im Kopf). Versuche, selbst ein surreales Traumbild zu gestalten. Es ist nicht ganz leicht, Bildelemente wirklichkeitsgetreu zu zeichnen oder zu malen. Diese Darstellungsweise verlangt sehr viel Erfahrung und Übung. Wenn es an deiner Schule eine geeignete Ausstattung gibt, könntest du ein geheimnisvoll oder fantastisch wirkendes Bild mithilfe eines Computers aufbauen. Bildelemente, die du dazu brauchst, lassen sich über einen Scanner einlesen. Mit einem geeigneten Programm (z. B. Photoshop) kannst du Form, Farbe und Größe verändern und die Teile nach deinen eigenen Ideen neu zusammensetzen. v.Chr. 0 500 1000 1500 heute ab ca. 1910, Pittura metafisica Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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