Zeichen 4, Schulbuch

71 Der Schauplatz  Das Bild (Abb. 1) stellt uns vor ein Podium, vor eine Art Bühne. Die Fugen der braunen Bodenbretter lenken unseren Blick per- spektivisch in die Tiefe. Am hinteren Bühnenrand erkennen wir eine zie- gelrote Burg mit vier Ecktürmen. Links davon ein Haus mit hellem, turm- artigem Aufbau. Noch weiter links eine Fabrik mit zwei rotbraunen Rauch- fängen. Der Himmel dahinter ist grün. Rechts wird die Bühne von einem Gebäude mit Laubengängen begrenzt. Es wirft seinen Schatten auf die Bühne, und seine Fassade ist im Gegenlicht kaum erkennbar. In dieser dunklen Schattenzone steht im Mittelgrund eine Figur, die an ein antikes Standbild erinnert. Vor ihr, noch im Schatten, ein Gebilde in gebro- chenen Farben. Was es darstellt, können wir nicht eindeutig sagen. Das Wahrzeichen  Die Burg, die im Hintergrund des Bildes zu sehen ist, gibt es wirklich. Sie steht in Ferrara (Abb. 3, 4). De Chirico verbrachte in dieser Stadt einige Jahre seines Lebens. Die Burg ist das einzige Bildelement, das wir ein- deutig identifizieren können. In Italien ist sie als Wahrzeichen Ferraras vermutlich ebenso bekannt wie in Österreich der Grazer Uhrturm oder das Goldene Dachl in Innsbruck. Dass wir dieses Gebäude erkennen, heißt aber noch nicht, dass wir auch wissen, was es in diesem Zusammenhang bedeuten soll. Gerade das Nebeneinan- der von Bekanntem und Rätselhaftem verleiht dem Bild trotz all seiner Starrheit eine „beunruhigende“ Wirkung. 3  Ansicht von Ferrara mit dem Castello Estense, Fresko , 1857 Die Akteure  Zwei weitere große Figuren nehmen den Vordergrund ein. Die stehende Gestalt links wendet der Betrachterin bzw. dem Betrachter den Rücken zu. Sie hat ein Tuch wie eine römische Toga über die Schulter geworfen. Die untere Hälfte ihres Körpers lässt eher an eine Säule als an ein menschliches Wesen denken. Auch die Farbe der Figur erinnert an Stein. An Stelle des Kopfes trägt sie ein rotbraunes birnenförmiges Ge- bilde. Starr und leblos steht sie da, wie eine Puppe. In der Mitte sitzt auf einer blauen Kiste eine zweite Figur. Hell, vielleicht ebenfalls aus Stein oder aus weiß lackiertem Holz. Auch ihre Beine enden in einer Art Säulenstumpf, an dem rechts ein roter, maskenartiger Schild lehnt. Ihr Kopf fehlt. Ein relativ kleiner, schwarzer Stummel, ein Handgriff vielleicht, ersetzt ihn. Zwischen den beiden Figuren steht aufrecht ein heller Stab, um den spiralförmig ein rotes Band gewickelt ist. Eine Schach- tel, deren Oberfläche aus farbigen Dreiecken zusammengesetzt ist, liegt schräg vor den beiden Gestalten. Sie reicht fast bis zum unteren Bildrand. Giorgio de Chirico (1888–1974) hat dieses Bild gemalt. Er gab ihm den Titel „Die beunruhigenden Musen“. Verbirgt sich darin ein Hinweis auf die Bedeutung des Bildes? Doch nicht nur die Bedeutung der Bildelemente ist rätselhaft, auch die Art der Darstellung schafft Verwirrung. Auf den ersten Blick sehen wir ein per- spektivisch geordnetes Bild, aber den Fluchtpunkten der Bühne und der kulissenhaften Gebäude fehlt der gemeinsame Horizont (vgl. Zeichen 4: Ein Bild wie die Wirklichkeit). Möglicherweise wird uns das nicht gleich bewusst. Unser Gehirn registriert diesen „Fehler“ dennoch und gibt uns das unbewusste Gefühl, dass „etwas nicht stimmt“. 4  Castello Estense in Ferrara, erbaut 1385–1570 5  Giorgio de Chirico: Muse metafisiche (Die metaphysischen Musen), Öl auf Leinwand, 1918 Hohlköpfig  Auch auf anderen Bildern de Chiricos treten die Musen auf: hohl- köpfige Puppen, die dem antiken Mythos nach zuständig sind für Inspiration in Kunst und Wissenschaft. v.Chr. 0 500 1000 1500 heute 1916/18 Giorgio de Chirico: Die beunruhigenden Musen Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

RkJQdWJsaXNoZXIy ODE3MDE=