Zeichen 4, Schulbuch

Ein Bilderrätsel 70 Die beunruhigenden Musen Es gibt Bilder, die uns in eine geheimnisvolle Welt führen. Ähnlich wie in einem Traum erkennen wir Gegenstände oder Personen, finden vertraute Einzelheiten wieder und verstehen doch den Sinn des Ganzen nicht. Solche Bilder wirken auf eigenartige Weise faszinierend. Manchmal versetzen sie uns in Unruhe. Widersprüchliche Gedanken gehen uns durch den Kopf, verschiedene Deutungen scheinen uns möglich. Gewissheit erhalten wir nicht. Zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts haben italienische Maler Bildwirkungen dieser Art bewusst angestrebt. Sie nannten ihre Arbeit „pittura metafisica“, „übersinnliche Malerei“. Betrachte das Bild (Abb. 1) genau und beschreibe, was du siehst. Beachte dabei nicht nur die Einzelheiten, sondern auch die Anordnung der einzelnen Bildelemente. Welche Gedanken löst das Bild in dir aus? Beschreibe die Stimmung, die es erzeugt. Welche Bedeutung könnte es haben? Die Musen  Der Titel des Bildes (Abb. 1) verweist auf jene neun Göttinnen der griechischen Antike, die unter der Führung Apolls die Künste und Wissen- schaften beschützen. Sollen die verstei- nerten, gesichtslosen Figuren zwei dieser Göttinnen darstellen? Ist mit der Statue, die am rechten Bildrand im Schatten steht, Apoll gemeint? Oder bezieht sich das Bild auf den von den Musen angeblich herbeigeführten Stillstand der Zeit? Der Gesang der Musen , so heißt es in einem antiken Mythos , hätte die Zeit angehalten und alle Lebewesen zu steinernen Säulen erstarren lassen. Es ist gut möglich, dass de Chirico, der seine Kindheit in Griechenland verbracht hatte und sehr gebildet war, in seiner Malerei bewusst solche Anspielungen machte. Mit Sicherheit wissen wir das aber nicht. 1  Giorgio de Chirico: Die beunruhigenden Musen, Öl auf Leinwand, 97,16 × 66 cm, 1916–1918 2  Urania, die Muse der Astronomie, Fresko aus Pompeji, ca. 70 n. Chr. Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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