Zeichen 4, Schulbuch
67 Die Geschichte Die drei Bilder verbinden sich nicht nur zu einem Gesamt- bild, sie erzählen zusammen auch vier Szenen einer einzigen Geschichte. Dass Ereignisse, die zeitlich hintereinander passiert sind, auf einem Bild nebeneinander und gleichzeitig geschildert werden, war damals nicht ungewöhnlich. Erst später wurde es üblich, auf einem einzelnen Bild nur noch Szenen zu zeigen, die gleichzeitig spielen. Erzählt wird eine Geschichte von Vertreibung und Flucht, von einer Über- fahrt über das Meer und der Ankunft in einem fremden Land. Die Erzäh- lung geht gut aus: Die Flüchtlinge finden eine neue Heimat und werden in die Gesellschaft ihres Gastlandes integriert. Sie finden Anerkennung und beruflichen Erfolg. Die ganze Geschichte ist allerdings ziemlich lang und verwirrend. Manche Szenen erinnern an Fantasy. In der rechten Randspalte findest du Einzelheiten dazu. Diese Details hat der Maler allerdings nicht selbst erfunden. Er kannte die Story bereits und wahr- scheinlich kannten sie auch viele der Betrachterinnen und Betrachter sei- ner Bilder. Wir dürfen annehmen, dass der Maler nach einer Art Drehbuch gearbeitet hat, so wie eine Person, die heute Regie für einen Film führt. Und dieses Drehbuch war nicht die Bibel. Ein Bestseller Wir wissen heute, dass viele Geschichten, die in Bildern des späten Mittelalters dargestellt sind, aus einem ganz bestimmten Buch stammen, das damals sehr beliebt und nach unseren heutigen Begriffen ein Bestseller war. Heilige als Ritter und Abenteurer In Voragines Geschichte werden der reiche Ritter Lazarus und seine Schwestern Maria Magdalena und Martha aus ihrer Heimat Palästina vertrieben. Zusammen mit Freunden treiben sie in einem steuer- losen Boot auf dem Meer. Sie stranden an einer fremden Küste, nahe der großen Stadt Marseille. Dort werden sie unfreundlich empfangen und müssen im Freien übernachten. Ihre Lage bessert sich erst, als Maria Magdalena der Frau des Landesfürsten mehrmals im Traum erscheint. Maria droht ihr und zuletzt auch dem Fürsten selbst ein schlimmes Schicksal an, wenn sie die Fremden weiterhin ausgrenzen sollten. Der Fürst und die Fürstin geben schließlich nach und bekehren sich sogar zum Christen- tum. Sie und ihr ganzes Volk lassen sich taufen. Lazarus und seine Freunde aber werden zu Bischöfen gewählt. Maria Magdalena geht als Einsiedlerin in die Wüste. Erst kurz vor ihrem Tod besucht sie die Kathedrale von Aix. Von dort weg wird sie von Engeln direkt in den Himmel getragen. Das Buch heißt „Legenda aurea“. Es wurde von Jakob von Voragine ver- fasst, einem italienischen Mönch, der später Bischof von Savona wurde. Der Autor schrieb Erzählungen in der Art der damals beliebten Ritter- romane. Die Helden erleben zahlreiche Abenteuer, reisen in fremde Län- der und kämpfen gegen Drachen und andere Ungeheuer. Die Hauptper- sonen sind aber immer Gestalten aus der Bibel oder besonders verehrte Heilige, deren Leben mit ungewöhnlichen und spannenden Ereignissen ausgeschmückt werden. An der Küste Südfrankreichs, an einem der Mündungsarme der Rhone, liegt die Stadt Stes-Maries-de-la-Mer (= „die heiligen Marien aus dem Meer“). Eine Wallfahrts- kirche erinnert dort an die angebliche Landungsstelle der „heiligen Marien“. Ort und Kirche zeugen, wie ernst Legenden im Mittelalter genommen wurden. 12 Ausschnitt aus Abb. 9 13 Stes-Maries-de-la-Mer 11 Magdalenenaltar von Tiefenbronn: Mittelfeld, rechter Flügel v.Chr. 0 500 1000 1500 heute 1432, Magdalenenaltar von Tiefenbronn Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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