Zeichen 4, Schulbuch

57 9  Giotto di Bondone: Fresko in der Oberkirche von San Francesco, Assisi, ca. 1290–1300 Alles ist so dargestellt, wie es in Wirklichkeit aussieht. Auch das Kreuz, das auf der Trennwand, dem so genannten Lettner, aufgestellt ist, zeigt uns seine Rückseite. Die Vorderansicht ist natürlich zum Hauptraum der Kir- che hin ausgerichtet. Die handelnden Personen wirken körperhaft – plas- tisch und mit ihrer Mimik und ihren Gesten sehr lebendig. Sie stehen dicht gedrängt in Gruppen. Es ist klar zu erkennen, wer und was sich wei- ter vorne und was sich weiter hinten befindet. Der offene Durchgang in der Mitte des Lettners führt den Blick noch weiter hinein in die Tiefe des Bildes. Die Größenverhältnisse zwischen Figuren und Architektur sind aufeinander abgestimmt. Kompromisse  Auf dem zweiten Bild (Abb. 9), schildert Giotto die Rück- kehr des Heiligen Franz in seine Heimatstadt. Einige bekannte Gebäude Assisis sind darauf erkennbar. Links das gotische Rathaus mit seinem Turm, in der Mitte die Front eines antiken Tempels, den es in Assisi tat- sächlich gibt. Hinter seiner Fassade wurde im Mittelalter eine Kirche ein- gerichtet. Im Vordergrund breitet ein kniender Mann ein Tuch auf den Boden, damit Franz nicht in den Schmutz der Straße treten muss. Vier vornehm gekleidete Männer stehen in Zweiergruppen links und rechts nahe dem Bildrand. Sie sind einander im Gespräch zugewandt. Auf diesem Bild wirken die Größenverhältnisse zwischen den Personen im Vordergrund und den Häusern, die den Hintergrund bilden, nicht ganz so überzeugend. Natürlich sind die Hausfassaden ein Stück entfernt, aber doch nicht weit genug, um diese Abbildungsgröße zu rechtfertigen. In einem perspektivisch korrekt geordneten Bild wäre das zweifellos ein Fehler. Auch die Anordnung der Linien, die in die Bildtiefe führen, ent- spricht nicht den Gesetzen der Perspektiv konstruktion. In beiden Bildern fehlen die gemeinsamen Fluchtpunkte. Aber genau diese mathemati- schen Gesetzmäßigkeiten kannte Giotto noch nicht. Vermutlich waren sie ihm auch gar nicht wichtig. Annäherung  Giotto legte offensichtlich Wert darauf, die Tätigkeiten und die Gefühle seiner Figuren sichtbar und erkennbar zu machen. Auch Landschaften, Häuser und Orte, die Schauplätze seiner Bilder, können wir identifizieren. Aber Abbildungen sind sie nicht. Ein Vergleich zwischen einem Foto des Rathausplatzes von Assisi und der von Giotto gemalten Szenerie macht das anschaulich. Hinter der räumlichen Wirkung seiner Bilder steht eher das Bestreben, so naturnahe wie nötig, aber nicht so naturgetreu wie möglich zu malen. Unlogisch?  Giotto verwendete auch Bildformulierungen, die nach den Gesetzen einer naturgetreuen Bildlogik nicht zulässig wären. Er hat Gebäude gemalt, die gleichzeitig von außen und von innen sichtbar sind. Auf dem unteren Bild stützt der Heilige Franz den einstür- zenden Petersdom und steht dabei selbst auf der Plattform des sich bereits neigenden Gebäudes. 10  Assisi, Rathausplatz, Foto, 1992 11  Giotto di Bondone: Fresko in der Oberkirche von San Francesco, Assisi, 1290/1300 v.Chr. 0 500 1000 1500 heute ab ca. 1290, Giotto di Bondone: Freskenzyklus in Assisi Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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