Zeichen 4, Schulbuch
44 Dokumentation Während sich die europäische Avantgarde-Fotografie vorwiegend in experimentellen Bereichen bewegte, wurde in Amerika die Linie der Straight photography fortgesetzt: einfache, scharfe Bilder von alltäglicher Wirklichkeit. Als 1935 von der Regierung eine Hilfsorgani- sation für verarmte Farmer eingerichtet wurde, bekamen mehrere Foto- grafinnen und Fotografen den Auftrag, das ländliche Leben zu dokumen- tieren. Die Öffentlichkeit sollte einen Eindruck von den elenden Lebens- bedingungen der Landbevölkerung erhalten, damit ein finanzielles Unterstützungsprogramm gestartet werden konnte. Trotz dieses poli- tischen Auftrags hatten die Fotografierenden viel Freiheit bei der Wahl ihrer Motive. Walker Evans (1903–1975) richtete die Kamera auf Dinge, die außer ihm niemand fotografiert hätte. Ohne Effekthascherei und mit dis- tanziertem Blick hielt er einfach fest, was da war. Die gewöhnlichste Holz- fassade und die ärmlichste Behausung erhielten so ihre eigene Würde. Schnappschuss Schon 1924 war eine kleine, handliche Kamera mit licht- starkem Objektiv auf den Markt gekommen: die Leica. Einer ihrer leiden- schaftlichsten Benutzer war der Franzose Henri Cartier-Bresson (1908– 2004). Er wollte jenen Bruchteil einer Sekunde einfangen, in dem das Wesentliche einer Situation sichtbar wird. Cartier-Bresson nannte dies den „entscheidenden Augenblick“. Es ging ihm um den „intuitiven Schuss“. Das verlangte viel Geduld, Einfühlungsvermögen, Schnelligkeit und Erfahrung. Abbildung 16 ist ein perfektes Beispiel für die Faszination der Momentfo- tografie. Man staunt über die unglaubliche Geistesgegenwart, die den Fotografen befähigte, genau in jenem Augenblick abzudrücken, in dem der Schuhabsatz des springenden Mannes die spiegelglatte Wasserober- fläche gerade noch nicht berührte. Man staunt aber auch über die Ausge- wogenheit der formalen Elemente: Der kleine Turm im Hintergrund bildet ein Gegengewicht zur Spiegelung des Mannes im Vordergrund, die Drei- eckform seiner gespreizten Beine wiederholt sich in den Satteldächern der Hallen und sogar in einem Zirkusplakat am Gitterzaun. Engagement Dorothea Langes (1895–1965) Porträt einer kalifornischen Wanderarbeiterin mit ihren drei Kindern zeigt tiefen Respekt vor den dargestellten Personen. Lange bat die Witwe und Mutter von sechs Kindern, sie fotografieren zu dürfen. Sie nahm sie aus verschiedenen Blickwinkeln auf, aber erst die sechste und letzte Aufnahme traf jenen Moment, der die starke emotionale Wirkung auslöste. Das Bild wurde zu einem der berühm- testen Beispiele für sozial engagierte Fotografie. Dieses Festhalten von ausdrucksstarken Momenten wurde in den 1930er-Jahren zu einem wichtigen Thema der Fotografie. Engagierte Blicke, entscheidende Momente 17 Walker Evans: The Church of the Nazarene. Tennessee, 1936 15 Dorothea Lange: Heimatlose Mutter, Kalifornien, 1936 16 Henri Cartier-Bresson: Hinter dem Bahnhof Saint-Lazare, Paris, 1932 Licht-Bilder Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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