Zeichen 4, Schulbuch

42 Straight  Ab 1910 zeichnete sich in der Zeitschrift „Camera Work“ langsam ein Umdenken ab: Immer öfter wurde die manuelle Bearbeitung der Negative (durch die die malerische Verschwommenheit erzeugt wurde) kritisiert. Fotografie sollte einfach, scharf und ungekünstelt sein. Sie sollte sich auf ihre eigenen Gestaltungsmittel konzentrieren und nicht jene der Malerei nachahmen. Alfred Stieglitz schloss sich dieser Meinung an und präsentierte 1917 in der letzten Ausgabe seiner Zeitschrift Straßenbilder von Paul Strand (1890–1976). Der Vergleich mit den beiden anderen Stadt- ansichten (Abb. 7, 8) zeigt, dass Strands Blick härter und sachlicher war. Um diese neue Richtung von den malerischen Bestrebungen der Piktoria- listen abzugrenzen, nannte man die eigene Stilrichtung „ straight photo- graphy “ (etwa: geradlinige, reine Fotografie). Perspektive  Auch in Europa entwickelten sich nach dem Ersten Welt- krieg neue fotografische Richtungen. Die gefühlvolle Stimmungsmalerei der Jahrhundertwende war vorbei. Die Kamera wurde als Instrument auf- gefasst, mit dem ein völlig neuer Blick auf die technisierte Welt möglich war. So hielt z. B. László Moholy-Nagy (1895–1946) die Kamera am Berliner Funkturm steil nach unten, sodass die realen Dinge wie Teile einer ab- strakten Komposition wirken. Auch der Russe Alexander Rodtschenko (1891–1956) verwendete gerne extreme Blickwinkel und ungewöhnliche Ausschnitte, um dynamische Bilder zu erzeugen. Auf diese Weise wollte er den Fortschrittsglauben der jungen Sowjetunion ausdrücken. In den 1920er-Jahren behaupteten viele fortschrittliche Fotografen, ihnen sei die Frage gleichg ltig, ob Fotografie nun Kunst wäre. Mit dieser Hal- tung wollten sie sich von den Bemühungen der Piktorialisten abgrenzen, für die die Anerkennung als Kunstschaffende sehr wichtig gewesen war. Sie wollten damit aber auch hervorheben, dass sie rein fotografische Mit- tel verwendeten, die nichts mehr mit Malerei zu tun hätten. Technisch gesehen war das sicher richtig, aber hinsichtlich der Bildgestaltung gab es – wie die Beispiele von Moholy-Nagy und Rodtschenko zeigen – viele Anklänge an die abstrakte Malerei. Auch „Die Gabel“ von André Kertesz (1894–1985) ist eine sorgfältig ausbalancierte Komposition von dunklen und hellen Flächen, geraden und gebogenen Linien (Abb. 12). Wahre Größe  Einer der wichtigsten Vertreter der Straight Photography war Edward Weston (1886–1958): Er wollte das Wesen eines Gegenstandes darstellen, indem er dessen stoffliche Beschaffenheit mit größtmöglicher Schärfe wiedergab. Die Beleuchtung spielte dabei eine entscheidende Rolle, denn sie ließ das Objekt greifbar erscheinen. Ein gewöhnliches Kohlblatt wurde so zu einer majestätischen Form, ein Paprika zu einer dynamischen Skulptur. 11  László Moholy-Nagy: Blick vom Radioturm, Vogelperspektive, Berlin, 1928 (links). Alexander Rodtschenko: Trompete spielender Pionier, 1930 (rechts) Fotografiere einen alltägli- chen Gegenstand, eine Blüte oder eine Frucht, sodass die plastische Form gut zum Ausdruck kommt. Zu diesem Zweck ist es notwendig, dass du die Kamera auf ein Stativ stellst und sehr nahe an das Motiv heranrückst, damit es das Bildformat ausfüllt. Reine Fotografie 9  Paul Strand: Wall Street, New York, 1915 10  Weston: Paprika Nr. 30, 1930 Licht-Bilder Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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