Zeichen 4, Schulbuch
30 Steuermänner Auf einem Unterbau, dessen Front spitz zuläuft wie ein Pfeil oder ein Schiffsbug, stehen drei lebensgroße Reiterfiguren. Zwei Männer in dunklen Anzügen sitzen auf Pferden, denen die Sättel auf die Bäuche geschnallt wurden. Eines der Pferde bäumt sich auf, der Reiter scheint zu stürzen. Das andere Pferd liegt auf dem Rücken, der Mann auf seinem Bauch trägt ein Banner und bläst in eine Trompete. Die dritte Figur, in eine ordensgeschmückte Uniformgekleidet, sitzt auf demRücken einer alten Frau mit Totenschädel. Sie hält sich mithilfe von Stöcken auf- recht und schleppt einen Wagen hinter sich her. Eine große Zahl kleiner Puppen oder Spielzeugfiguren umgibt die Reiter: Soldaten, Spielzeugin- dianer, afrikanische Schnitzfiguren usw. Dazwischen stehen Flaggen ver- schiedener Länder. Die Augen der großen Reiter sind verbunden, die Bin- den tragen die Aufschrift „NO“. Das „NO“ – auch „YES“ wäre theoretisch möglich – ist das Ergebnis einer aktuellen Umfrage, die vor jeder Ausstellung des Tableaus im jeweiligen Gastland gemacht wird: „Macht die Regierung ihre Arbeit gut?“ Edward und Nancy Kienholz sprechen in diesemWerk von Macht und von Ohnmacht. Regierung und Armee sind in großen und mächtigen Figuren präsent. Ihnen stehen die winzigen Gestalten derer gegenüber, die von ihnen befehligt werden oder von ihnen abhängig sind. Aber die Führer sind blind. Das, was sie tun, erscheint verwirrt, sinnlos, verkehrt. Nach dem Krieg Kienholz hat die Themen Krieg, Gewalt, Unrecht und Not in vielen seiner Werke behandelt. Und immer wieder kritisierte er mit großer Härte Heldenkult und politische Propaganda . „John Doe“ heißt eine seiner frühen Montagen : eine Schaufensterpuppe, in zwei Hälften geschnitten und auf dem Untergestell eines Kinderwagens montiert, ergänzt durch Bemalung und einige kleine Details. „John Doe“ ist die in den USA gebräuchliche Bezeichnung f r fiktive oder nicht identifizierte Personen. Triumph und Parade 7 Edward und Nancy Kienholz: The Ozymandias Parade, 1985, Teilansicht Nestbeschmutzer? Edward Kienholz wurde wegen seiner Arbeiten heftig kritisiert und angegriffen. Man warf ihm vor, er würde das Andenken der gefallenen Soldaten beleidigen und die Ehre seines Landes in den Schmutz ziehen: ein „Nestbeschmutzer“. In einem Brief, den eine Kunstzeitschrift 1969 veröffentlichte, verteidigte er sich: „Ich würde dieses Land nie beleidigen. Ich liebe es genauso wie Sie. Ich erlaube mir aber, es verändern zu wollen, und ich versuche das auf meine Art.“ Der Ausdruck „Nestbeschmutzer“ wird häufig dazu verwendet, Menschen, die Missstände aufzeigen oder vor Fehl- entwicklungen warnen, in der Öffentlich- keit schlecht zu machen. Sehr oft sind kritische Journalistinnen und Journalisten davon betroffen, manchmal auch Künstlerinnen und Künstler. Angegriffen werden dabei nicht diejenigen, die ein Unheil angerichtet haben, sondern jene, die darüber berichten. 6 Edward Kienholz: John Doe, 1959 Das tragbare Kriegerdenkmal Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
Made with FlippingBook
RkJQdWJsaXNoZXIy ODE3MDE=