Zeichen 4, Schulbuch
27 Neue Bildauffassung Es ist für uns heute gar nicht so leicht, die geistige Leistung zu begreifen, die Ambrogio Lorenzetti, der Maler dieser Bilder, erbracht hat. Niemand vor ihm hatte je ein ähnliches Thema gestaltet. Die Bilder des Mittelalters beschäftigten sich fast ausschließlich mit reli- giösen Inhalten. Die Leute kannten die Geschichten, die in ihnen erzählt wurden und sie erkannten die handelnden Figuren an ihren Attributen – an Gegenständen, die ihnen als Erkennungszeichen zugeordnet waren. Aber wie sollten eine gute oder eine schlechte Regierung im Bild darge- stellt werden? Das Leben der Menschen selbst zu zeigen und es dann der Öffentlichkeit zu überlassen, nach Ursachen und Voraussetzungen für Krieg und Frieden zu fragen, das war ein völlig neuer Gedanke. Aus heuti- ger Sicht können wir sagen, dass mit der „Erfindung“ eines solchen Bildes in der Geschichte der Bildmedien das Mittelalter zu Ende ging. Wir haben gesehen, dass es in der Sala dei Nove noch zwei andere Fresken gibt, die im Prinzip die gleichen Themen („gute und schlechte Regierung“) behandeln oder diese ergänzen. Sie sind allerdings in einer ganz anderen Bildsprache verfasst, die der traditionellen Bildauffassung des Mittelal- ters eher entspricht. Es scheint fast so, als ob der Maler seine neuartige Bilderfindung noch durch eine Darstellung in der damals üblichen und vertrauteren Form kommentieren oder erklären wollte. Raumdarstellung Ambrogio Lorenzetti hatte zur Verwirklichung seiner Idee viele Probleme zu lösen. Um die Tätigkeiten der Menschen in einer Stadt über- zeugend darzustellen, schuf er Einblicke in die Gassen und Plätze, ja sogar in das Innere einzelner Häuser. Dazu musste er seine Bilder räumlich gestalten. Du hast gesehen, dass er die Gebäude in Gruppen hintereinander gestellt hat, sodass sie sich teilweise überdecken. Viele Häuser stehen über Eck und zeigen eine Vorder- und eine Seitenansicht zugleich. Diese Schrägstellung ist ein wichtiger Trick, um einem Bild den Eindruck räumlicher Tiefe zu geben. Die Seitenkanten der Gebäude führen uns in einen Bildraum, der nur in unserer Vorstellung existiert. In Wirklich- keit bleibt das Bild natürlich eine ebene Fläche. Lorenzetti hat den Eindruck von Bildtiefe zusätzlich verstärkt, indem er die Seiten- kanten eines Gebäudes so anordnete, dass sie scheinbar in einen gemein- samen Punkt zusammenlaufen. An einigen Stellen seiner Bilder kannst du das überprüfen, indem du ein Lineal an der Dachkante und eines an einem Fenstersims anlegst. Die Stellen, an denen sich die Verlängerungen der Seitenkanten überschneiden, werden Fluchtpunkte genannt. Kennst du Bilder, durch die eine Stadt, ein Land oder eine Regierung auf sich aufmerksam machen oder für sich werben? Welche Bildmedien kommen dafür in Frage, welche werden am häufigsten genutzt? Gestalte selbst ein Plakat, das für die Vorzüge deines Heimatortes werben soll. Versuche dabei mit möglichst wenig Text auszukommen oder ganz auf die Schrift zu verzichten. Gibt es in deinem Wohnort ein architektonisches Wahrzeichen – ein Gebäude, an dem man diesen Ort schon von weitem oder auf einem Foto sofort erkennen würde? Versuche ein solches Bauwerk zu zeichnen. Werden auch heute noch Gebäude errichtet, deren Gestaltung bestimm- te Ideen oder Ansprüche zum Ausdruck bringt? Unabhängigkeit, Macht, Fortschrittlichkeit oder Reichtum zum Beispiel. Durch welche Zeichen macht Architektur solche Aussagen sichtbar? Sammle in einer Fotorepor- tage Beispiele für architektonische Zeichensprache und beschreibe sie. Perspektive Giotto di Bondone (1266–1337) ist der berühmteste Meister räumlicher Darstellung dieser Zeit. Er achtete aller- dings noch nicht strikt darauf, dass wirklich alle Gebäudekanten, die in die Bildtiefe führen, auf einen Fluchtpunkt abzielen. Manchmal zeichnete er sie auch parallel. Fast ein Jahrhundert später errechneten Architekten und Maler in Florenz die optischen und mathematischen Gesetze dieser perspektivischen Darstellungsweise. Bilder konnten nun einen noch stärkeren Eindruck von Wirklichkeit erzeugen (vgl. Zeichen 4: Ein Bild wie die Wirklichkeit). 28 Ambrogio Lorenzetti: Auswirkungen einer schlechten Regierung: Allegorie der Furcht 29 Giotto di Bondone: Der Heilige Franziskus vertreibt Dämonen aus Arezzo, Fresko, 270 × 230 cm,1295/1300 v.Chr. 0 500 1000 1500 heute Giotto di Bondone (1266–1337) Nur zu Prüfzwecken – Eig ntum des Verlags öbv
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