Zeichen 2, Schulbuch

75 Bild links Die meisten Betrachterinnen und Betrachter schauen zuerst auf den jungen Mann, der sich aus dem oberen Fenster herausbeugt. Da das Sonnenlicht auf ihn fällt, hebt er sich vom dahinter liegenden dunklen Raum deutlich ab. Auch die zwei Frauen im unteren Fenster ziehen gleich die Aufmerksamkeit auf sich, denn man ist neugierig, was sie tun. Bei genauerem Hinschauen erkennt man, dass die jüngere der beiden mit einer Handarbeit beschäftigt ist, während die ältere erstaunt die Augen aufreißt. Und nun erst bemerkt man den Grund der Aufregung: Ein Brief schwebt „vom Himmel“ herab! Sie sieht nicht, was die Betrachtenden sehen: Der Brief hängt an einem Faden, den der junge Mann wie eine Angelschnur zum umworbenen Mädchen hinuntersinken lässt. Auch er weiß in diesem Augenblick noch nicht, dass sein Vorhaben von der strengen Bewacherin schon entdeckt ist und vereitelt werden wird. Warum bemerkt man relativ schnell das kleine, unscheinbare Rechteck des Briefes? Der Grund dafür liegt in der Kombination mehrerer Gestaltungsmittel: • Man folgt unwillkürlich den Blick- richtungen der dargestellten Personen, d.h. man schaut automatisch dorthin, wo die erschrockene Frau und der junge Mann hinschauen. • Das Hauptgeschehen spielt sich in der Mittelachse des Bildes ab. Der Brief selbst befindet sich fast genau im Zentrum. • Durch seinen lichten Grauton hebt er sich von der graubraunen Mauer zwar nur wenig ab, aber da seine untere Ecke in die dunklere Fensterumrahmung hineinragt, merkt man den Helligkeitsunterschied. • Hier wird auch deutlich, wie wichtig die Schrägstellung des Briefes ist, denn in waagrechter Position würde er keinen Kontrast zu den vielen horizontalen Linien der Hauswand bieten und deshalb viel weniger auffallen. 4 Carl Spitzweg, 1860: Überlege, durch welche Elemente in diesem Bild eine Geschichte erzählt werden kann. Versuche einen dazu passenden Titel zu finden. Den Originaltitel findest du auf Seite 77. Bei scheinbaren Nebensächlichkeiten kann man sich die Frage stellen: Warum hat Spitzweg sie so auffällig gemalt? Haben sie vielleicht symbolische Bedeutung? Überlege dir Erklärungsmöglichkeiten, in welcher Beziehung der Käfig und das Taubenpaar zur Haupthandlung stehen könnten. Zufall? Ob Spitzweg all diese Gestaltungsweisen mit voller Absicht eingesetzt hat oder ob sie einfach Folge seines geübten Malerblicks waren, lässt sich schwer sagen. Beim Herstellen eines Kunstwerks verschwim- men oft die Grenzen zwischen bewusster Planung und gefühlsmäßigem Handeln. Natürlich gibt es neben dem Brief noch andere Details, die den Blick auf sich ziehen, z. B. der Vogelkäfig rechts unten oder die zwei schnäbelnden Tauben. v.Chr. 0 500 1000 1500 heute Carl Spitzweg (1808–1885) Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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