Malle Mathematik verstehen 7, Schulbuch

250 10 Komplexe Zahlen Komplexe Zahlen Im 16. Jahrhundert tauchten Wurzeln aus negati- ven Zahlen auf. CARDANO (1501 –1576) stellte die Aufgabe, die Zahl 10 in zwei Summanden zu zer- legen, deren Produkt 30 ist (vgl. Seite 230). Die Aufgabe führt auf eine quadratische Gleichung und die formale Anwendung der Lösungsformel für solche Gleichungen liefert die Ausdrücke 5 + ​ 9 __ – 5​und 5 – ​ 9 __ – 5​. Cardano konnte diesen Aus- drücken keinen Sinn beilegen und nannte sie „sophistische“ Ausdrücke. Die obige Aufgabenstellung konnte man noch als unsinnig bezeichnen. Cardano bemerkte jedoch, dass man mit den Wurzeln aus negativen Zahlen auch ernsthaftere Probleme lösen kann. Er ver- wendete eine Formel zur Lösung von kubischen Gleichungen der Form x 3 + px + q = 0 (siehe Seite 235). Dabei können in bestimmten Fällen wäh- rend der Rechnung Wurzeln aus negativen Zahlen auftreten, während sich im Endresultat durchaus reelle Lösungen der Gleichung ergeben. Ähnlich wie bei den negativen Zahlen begann man die Wurzeln aus negativen Zahlen als nützliche Zwi- schenglieder beim Gleichungsrechnen zu akzep- tieren, nicht jedoch als Endresultate. Die Frage, ob sie Zahlen darstellen, wurde kaum gestellt. Da man mit Wurzeln aus negativen Zahlen jedoch rechnen kann, insbesondere Gleichungen lösen und damit verschiedene Anwendungsprobleme bewältigen kann, lag eine Reparatur des bisher vertretenen Zahlbegriffs in der Luft. BOMBELLI (1526–1572) versuchte die Situation durch Einfüh- rung eines erweiterten Vorzeichenbegriffs zu ret- ten. Er fügte den Vorzeichen „plus“ (piu) und „mi- nus“ (meno) noch zwei weitere Vorzeichen hinzu, die in heutiger Notation + i (piu di meno) und – i (meno di meno) entsprechen. Für diese Vorzeichen formulierte er Vorzeichenregeln: Piu uia piu fa piu + mal + gibt + Piu uia meno fa meno + mal – gibt – Piu uia piu di meno fa meno di meno + mal + i gibt + i Meno uia piu di meno fa meno di meno – mal + i gibt – i usw. Die große Anzahl an Vorzeichenregeln (insge- samt 16), die man sich hier merken müsste, war wahrscheinlich der Hauptgrund, warum sich die- ser Vorschlag nicht durchsetzte. Die komplexen Zahlen entsprachen nicht dem STEVINschen Zahlbegriff. Sie konnten nämlich nicht als „Quantitäten“ gedeutet werden, da es nicht gelang, für sie eine Ordnung (Kleinerrela­ tion) zu definieren. Deshalb war nur eine beding- te Anerkennung der komplexen Zahlen in der Theorie möglich, die sich ähnlich wie bei den ne- gativen und irrationalen Zahlen darin äußerte, dass man die komplexen Zahlen zwar als Zahlen akzeptierte, aber als „sophistische“, „unmögli- che“, „falsche“, „eingebildete“, „imaginäre“ Zahlen uÄ bezeichnete. Die fortschreitende Anerkennung der komple- xen Zahlen wurde in der Folgezeit aus drei Quel- len gespeist: die Möglichkeit des Rechnens, die Vereinfachung der Theorie und des Lösens alge- braischer Gleichungen sowie die anschauliche Darstellung in der Gauß’schen Zahlenebene. Die endgültige Anerkennung der komplexen Zahlen in der allgemein vertretenen Theorie war je- doch wie bei den negativen Zahlen erst im 19. Jahrhundert möglich, nachdem der STEVIN- sche Zahlbegriff durch den axiomatischen Zahl- begriff abgelöst wurde. Damit war die Erweite- rung der reellen Zahlen zu den komplexen Zahlen vollzogen. Die Ausdrücke „sophistisch“, „unmöglich“ usw. verschwanden wieder. Das Wort „imaginär“ behielt nur mehr eine techni- sche Bedeutung bei. Gerolamo CARDANO (1501 –1576) Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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