Malle Mathematik verstehen 7, Schulbuch

248 10 Komplexe Zahlen Irrationale Zahlen Die Pythagoräer untersuchten ua. Verhältnisse von Saitenlängen am Monochord und entdeck- ten dabei, dass die musikalischen Intervalle durch einfache Verhältnisse natürlicher Zahlen be- schrieben werden können (Oktave 1 : 2, Quinte 2 : 3, Quarte 3 : 4 usw.). Verhalten sich zwei Stre- ckenlängen beispielsweise wie 2 : 3, so bedeutet dies, dass es ein „gemeinsames Maß“ gibt, wel- ches in der einen Strecke zweimal und in der an- deren Strecke dreimal enthalten ist (siehe die Ab- bildung). Die Pythagoräer nannten zwei Strecken kom- mensurabel , wenn es ein solches gemeinsames Maß gibt. Sie glaubten zunächst, dass zwei belie- bige Strecken stets kommensurabel seien, dh. dass man immer ein gemeinsames Maß finden könne, auch wenn dieses sehr klein ist. Sie ent- deckten aber später (möglicherweise war es HIPPASOS von Metapont), dass es inkommensu- rable Strecken gibt, also Strecken, für die kein ge- meinsames Maß gefunden werden kann. Dies gilt etwa für die Seite und Diagonale eines Quadrats oder die Seite und Diagonale eines regelmäßigen Fünfecks. Diese Erkenntnis wirkte wie ein Schock, da sie die Grenzen der griechischen Proportio- nenlehre aufzeigte. Durch verschiedene Repara- turen (zB durch EUDOXOS) versuchten die Grie- chen, ihre Proportionenlehre der geänderten Situation anzupassen. Eine wirkliche Lösung war aber erst möglich, nachdem das Problem von der Geometrie losgelöst wurde und die Verhältnisse inkommensurabler Strecken durch irrationale Zahlen beschrieben wurden. Einen wesentlichen Anstoß zur Bildung der irrati- onalen Zahlen dürfte die Dezimalschreibweise geliefert haben. Denn wenn man Zahlen mit end- lich vielen Nachkommastellen anschreiben darf, liegt der Gedanke nahe, auch solche mit unend- lich vielen Nachkommastellen zuzulassen, auch wenn die Darstellung nicht periodisch ist. Wenn- gleich man diese Zahlen nicht genau angeben kann, kann man sie doch mit beliebig vorgegebe- ner Genauigkeit annähern. Wenn man aber von Annähern spricht, setzt dies voraus, dass es Zah- len gibt, denen man sich annähert. Das sind die irrationalen Zahlen. Die Anerkennung der irrationalen Zahlen erfolgte jedoch zögernd. Lange Zeit befand man sich in ei- nem Zwiespalt: Einerseits hatten die irrationalen Zahlen typische Eigenschaften von Zahlen (man konnte sie zB als Punkte auf der Zahlengeraden darstellen), andererseits empfand man sie doch nicht als „richtige“ Zahlen. Man nannte sie daher „absurde“, „irreguläre“, „unerklärliche“ oder „tau- be“ Zahlen. Auch der heute gebräuchliche Aus- druck „irrational“ ist ein Rest dieses Zwiespalts. Einer der Ersten, der die irrationalen Zahlen als vollwertige Zahlen anerkannte, war Simon STEVIN (1548 –1620), ein eifriger Verfechter der damals durchaus noch nicht üblichen Dezi- malschreibweise. Er erweiterte die Zahlauffas- sung von Petrus RAMUS und beschrieb eine Zahl im Wesentlichen als etwas, mit dem wir „Quanti- täten“ ausdrücken, dh. mit dem wir zählen , rech- nen und messen . Da beispielsweise zu einer exak- ten Längenangabe auch irrationale Maßzahlen erforderlich sind, zählen bei ihm auch die irratio- nalen Zahlen zu den Zahlen. Er erkannte, dass die reellen Zahlen (also die rationalen und irrationa- Simon STEVIN (1548 –1620) Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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